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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Formulare unterschrieben, und Jesse steht neben mir vor dem Haftrichter. Weitere zwanzig Minuten später ist er offiziell auf Bewährung frei, und wir verlassen das Gebäude.
    Es ist einer von diesen Sommertagen, die sich anfühlen wie eine Erinnerung. An Tagen wie diesen bin ich mit meinem Vater oft segeln gegangen.
    Jesse legt den Kopf in den Nacken. »Wir haben früher Kaulquappen gefangen«, sagt er aus heiterem Himmel. »Wir haben sie in einen Eimer getan und dann zugesehen, wie aus den Schwänzen Beine wurden. Keine einzige, und das schwör ich, hat es bis zum Frosch geschafft.« Er wendet sich mir zu und zieht eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hemdtasche. »Möchten Sie eine?«
    Ich habe seit meinem Studium nicht mehr geraucht. Aber jetzt nehme ich eine und zünde sie an. Judge beobachtet das Schauspiel mit heraushängender Zunge. Neben mir steckt auch Jesse sich eine Zigarette an. »Danke«, sagt er. »Für das, was Sie für Anna tun.«
    Ein blauer Strahl Rauch strömt aus Jesses Mund. Ich frage mich, ob er auch Erinnerungen hegt, die viele Jahre alt sind – wie er auf dem Rasen vor dem Haus sitzt und das Gras abkühlt, nachdem die Sonne untergegangen ist, wie er am vierten Juli eine Wunderkerze abbrennen läßt, voller Angst, er könnte sich die Finger verbrennen. Irgendeine haben wir alle.
    Siebzehn Tage nach der Abschlußfeier steckte sie mir einen Brief unter den Scheibenwischer meines Jeeps. Bevor ich ihn aufmachte, fragte ich mich, wie sie überhaupt nach Newport gekommen war und wie wieder zurück. Ich ging mit dem Brief in die Bucht und las ihn auf den Felsen. Anschließend roch ich daran, um festzustellen, ob er nach ihr duftete .
    Eigentlich durfte ich nicht Auto fahren, aber es war mir egal. Wir trafen uns, wie sie in dem Brief vorgeschlagen hatte, auf dem Friedhof .
    Julia saß vor dem Grabstein, die Arme um die Knie gelegt. Sie blickte auf, als ich kam. »Ich hatte gehofft, daß du anders bist.«
    Â»Julia, es hat nichts mit dir zu tun.«
    Â»Nein?« Sie stand auf. »Meine Eltern haben mir kein eigenes Konto eingerichtet, Campbell. Mein Vater hat kei ne Yacht. Wenn du gehofft hast, ich würde mich irgendwann wie Aschenputtel verwandeln, hast du dich schwer getäuscht.«
    Â»Das ist mir doch alles völlig egal.«
    Â»Erzähl mir doch nichts.« Ihre Augen verengten sich. »Worum ging’s dir? Wolltest du dich mal unters gemeine Volk mischen? Wolltest du deinen Eltern einen reinwür gen? Und mich dann wieder fallenlassen wie eine heiße Kartoffel?« Sie schlug mich gegen die Brust. »Ich brauche dich nicht. Ich hab dich nie gebraucht.«
    Â»Aber ich hab dich gebraucht, verdammt!« schrie ich zurück. Als sie sich umdrehte, packte ich sie an den Schultern und küßte sie. Ich ließ alles, was ich nicht in Worte fas sen konnte, in sie hineinströmen .
    Manchmal tun wir etwas, weil wir uns einreden, es wäre für alle Beteiligten besser so. Wir sagen uns, daß es das Rich tige ist, daß es uneigennützig von uns ist. Das ist leichter, als uns die Wahrheit einzugestehen .
    Ich stieß Julia von mir weg. Stapfte den Friedhofshügel hinunter. Ohne mich noch einmal umzudrehen .
    Anna sitzt im Auto neben mir, was Judge nicht so recht in den Kram paßt. Er schiebt sein trauriges Gesicht nach vorn zwischen uns und hechelt wie verrückt. »Das war ja heute kein besonders gutes Zeichen für das, was uns bevorsteht«, sage ich zu ihr.
    Â»Wie meinen Sie das?«
    Â»Wenn du das Recht willst, wichtige Entscheidungen zu treffen, Anna, dann mußt du jetzt damit anfangen. Und dich nicht darauf verlassen, daß andere den Schaden beheben.«
    Sie blickt mich finster an. »Sagen Sie das, weil ich Sie gebeten hab, meinem Bruder zu helfen? Ich dachte, Sie wären mein Freund .«
    Â»Ich hab dir schon einmal gesagt, ich bin nicht dein Freund, ich bin dein Anwalt. Das ist ein entscheidender Unterschied.«
    Â»Schön.« Sie hantiert am Türgriff herum. »Dann gehe ich zurück zur Polizei und sage, sie sollen Jesse wieder einsperren.« Sie drückt die Beifahrertür ein Stück auf, obwohl wir auf einem Highway unterwegs sind.
    Ich packe den Griff und knalle die Tür wieder zu. »Bist du verrückt?«
    Â»Keine Ahnung«, antwortet sie. »Ich würde Sie ja gern fragen, was Sie glauben, aber dafür sind Sie als mein Anwalt

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