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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Jesse und ich gehen Seite an Seite zum Wartebereich. Er ist so groß wie ich, aber noch mit ungeschliffenen Ecken und Kanten. Sein Gesicht hellt sich auf, als wir um die Ecke biegen, und einen Moment lang denke ich, daß er den Gefallen wiedergutmachen könnte, daß seine Gefühle für Anna vielleicht doch ausreichen, um aus ihm einen Verbündeten für sie zu machen.
    Doch er beachtet seine Schwester gar nicht und geht statt dessen auf Julia zu. »Hi«, sagt er. »Haben Sie sich etwa Sorgen um mich gemacht?«
    Am liebsten möchte ich ihn in diesem Augenblick wieder einsperren lassen.
    Â»Nicht zu fassen«, seufzt Julia. »Komm, Anna. Wir gehen irgendwo was essen.«
    Jesse blickt auf. »Klasse. Ich bin halb verhungert.«
    Â»Du nicht«, sage ich. »Wir fahren zum Gericht.«
    Am Tag der Schulabschlußfeier kamen die Heuschrecken. Sie kamen wie ein heftiges Sommergewitter, baumelten an den Ästen der Bäume und platschten hart auf dem Boden auf. Für die Meteorologen war es ein gefundenes Fressen und sie gaben sich alle Mühe, das Phänomen zu erklären .
    Sie beriefen sich auf biblische Plagen und El Niño und die langen Trockenperioden in unserer Gegend. Sie empfahlen Regenschirme, breitkrempige Hüte und den Aufenthalt in geschlossenen Räumen .
    Die Abschlußfeier fand jedoch draußen statt, unter einem großen, weißen Zeltdach. Während der Schulleiter seine Ansprache hielt, sprangen immer wieder Heuschrecken in den Tod, ließen sich auf den Schoß von Zuschauern fallen .
    Ich hatte gar nicht kommen wollen, aber meine Eltern bestanden darauf. Als ich gerade meinen Hut aufsetzte, kam Julia zu mir. Sie schlang ihre Arme um meine Taille. Sie wollte mich küssen. »He«, sagte sie. »Von welchem Pla neten kommst du denn?«
    Ich weiß noch, daß ich dachte, wir sähen in unseren weißen Umhängen alle wie Gespenster aus. Ich schob sie von mir weg. »Nicht, ja? Laß das bitte.«
    Auf jedem Foto, das meine Eltern auf der Feier machten, lächelte ich, als wäre diese neue Welt ein Ort, an dem ich gerne leben würde, während überall um mich herum faust große Insekten zu Boden stürzten .
    Was für einen Anwalt moralisch vertretbar ist, weicht vom Moralempfinden des Durchschnittsmenschen ab. Ja, wir haben sogar ein Buch darüber – die ›Regeln der beruflichen Verantwortung‹ –, das wir lesen müssen, über das wir geprüft werden und an das wir uns halten müssen, wenn wir als Anwälte tätig sind. Aber genau diese Maßstäbe zwingen uns, Dinge zu tun, die bei den meisten Leuten als unmoralisch gelten. Wenn Sie beispielsweise in mein Büro spaziert kommen und sagen: »Ich habe das Lindbergh-Baby umgebracht«, könnte ich Sie fragen, wo der Leichnam ist. »Unter meinem Schlafzimmerfußboden«, antworten Sie, »einen Meter tief verbuddelt.« Als guter Anwalt darf ich keiner Menschenseele verraten, wo das Baby ist, sonst könnte ich meine Zulassung verlieren.
    Damit will ich eigentlich nur sagen, daß ich in meiner Ausbildung praktisch gelernt habe, daß Moral und Berufsethos nicht unbedingt Hand in Hand gehen.
    Â»Bruce«, sage ich zu dem Staatsanwalt, »mein Mandant ist geständig. Wenn Sie vielleicht noch ein paar der kleineren Verkehrsdelikte vergessen könnten, schwöre ich, wird er sich nie wieder dem Richter oder dessen Wagen auch nur auf zehn Metern nähern.«
    Ich frage mich, ob der Bevölkerung dieses Landes auch nur ansatzweise klar ist, daß das Rechtssystem wesentlich mehr mit einem guten Pokerblatt als mit Gerechtigkeit zu tun hat.
    Bruce ist in Ordnung. Außerdem weiß ich zufällig, daß er gerade erst einen Doppelmord zugewiesen bekommen hat. Er hat keine Lust, auch noch mit einer Anklage gegen Jesse Fitzgerald Zeit zu vergeuden.
    Â»Sie wissen ja, daß wir hier über den Humvee von Richter Newbell reden, Campbell«, sagte er.
    Â»Ja. Das ist mir durchaus klar«, erwidere ich ernst, obwohl ich denke, daß jemand, der so eitel ist, mit einem Humvee herumzukutschieren, sich nicht wundern sollte, wenn er ihm geklaut wird.
    Â»Ich rede mit dem Richter«, seufzt Bruce. »Wahrscheinlich reißt er mir den Kopf ab, wenn ich ihm das vorschlage, aber ich werde ihm sagen, daß selbst die Polizei dafür ist, dem Jungen noch eine Chance zu geben.«
    Zwanzig Minuten später haben wir alle

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