Being
Nein. Er hat keine Ahnung, was ihn in Bewegung setzt, was ihn atmen lässt, was ihn zu
ihm
macht. Nicht er hält seinen Körper am Leben – der Körper nutzt ihn, um sich selbst am Leben zu halten.
Ungefähr zwanzig Minuten später fuhren wir in einen Busbahnhof ein und der Mann mit dem glatten Haar stand auf, also mussten wir wohl in Stratford sein. Ich erhob mich und folgte dem |110| Mann aus dem Bus. Einen Moment blieb er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, dann steckte er die Hände in die Taschen und verschwand über den Platz.
Er mag ja vielleicht nicht wissen, was in seinem Körper ist, überlegte ich, doch zumindest weiß er, wo er hinwill.
Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinwollte. Ich stand nur da, schaute mich um und sah, was es zu sehen gab. Ich sah einen futuristisch wirkenden Busbahnhof mit einem eigenartigen weißen Dach. Weiße Teflonsäulen mit auf den Kopf gestellten Teflonregenschirmen obendrauf. Ich sah gegenüber, jenseits der Straße, einen Bahnhof mit einem U-Bahn -Schild. Einen breiten, gepflasterten Platz, Gebäude, jede Menge glänzendes schwarzes Glas. Und direkt vor mir, auf der andern Seite der Straße, sah ich den Eingang zu einer überdachten Ladenpassage. Farben. Plastik, Menschen.
Ich überlegte einen Moment …
Busbahnhof.
U-Bahn .
Ladenpassage.
… dann ging ich in Richtung U-Bahn .
Ich kaufte mir an einem Fahrkartenautomaten eine Travelcard, nahm die Central Line Richtung Liverpool Street, wechselte dort in die Circle Line und stieg am King’s Cross aus, mitten in London. Ein Wirrwarr von Tunneln und Rolltreppen führte mich nach oben zum Bahnhof für die Fernzüge und ich ging durch die Halle hinüber zum Fahrkartencenter. Vor dem Eingang blieb ich stehen und nahm den Hut ab, dann ging ich hinein.
Die Fahrkartenverkäuferin war eine fette Dunkelhäutige.
|111| »Ja?«, sagte sie.
»Einfache Fahrt nach Edinburgh, bitte.«
Ihre Finger glitten über die Tastatur.
»Wann wollen Sie fahren?«, fragte sie.
»Was?«
»Wann Sie reisen wollen?«
»Jetzt, mit dem nächsten Zug.«
»93,10 Pfund«, sagte sie.
Ich reichte ihr Ryans Visa-Karte. Sie zog sie durch die Maschine und ich hoffte, ich hatte richtig vermutet. Ich wusste, sie würden Ryans Karte überwachen, doch ich nahm an, dass sie sie nicht sperren würden. Denn wenn sie das getan hätten, würde ich jetzt weglaufen, und sie wollten ja nicht, dass ich weglief. Sie wollten nur wissen, wo ich war. Deshalb würden sie mich Ryans Karte benutzen lassen und danach so schnell wie möglich herkommen. Sie würden den Bahnhof umstellen. Sie würden die Züge durchsuchen. Sie würden die Fahrkartenverkäuferin befragen – wie sah er aus, wo wollte er hin? – und sie würde ihnen erzählen, wie ich aussah und wo ich hinwollte. Aber sie würde falschliegen.
Und ich lag richtig.
Die Kreditkarte ging problemlos durch. Die Fahrkartenverkäuferin reichte mir einen Beleg. Ich unterschrieb ihn –
David Ryan
– und gab ihn wieder zurück. Sie sah sich die Unterschrift nicht mal an, sondern schob mir eine Fahrkarte und die Kopie des Belegs zu, dann gähnte sie und schaute über die Schulter nach einer Wanduhr.
Ich verließ das Fahrkartencenter, ging zurück zur U-Bahn -Station und sprang in einen Zug der Piccadilly Line. Als sich die Türen schlossen und der Zug in die Dunkelheit eintauchte, erlaubte |112| ich mir ein kleines Lächeln. Bis Ryan und seine Leute am King’s Cross waren, den Bahnhof umstellt, die Fahrkartenverkäuferin befragt und den Zug nach Edinburgh durchsucht hatten, nur um festzustellen, dass ich nicht drin war, würde ich nicht nur längst irgend
wo
anders sein, sondern – mit ein bisschen Glück – auch irgend
wer
anders.
Ich lehnte mich in den Sitz zurück und schloss die Augen.
Zum ersten Mal nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, wusste ich, wohin ich wollte.
|113| Neun
B evor all das geschah, hatte ich nie so richtig über meine Mutter nachgedacht. Ich hatte nie versucht, sie zu finden oder zu erfahren, wo sie lebte. Ich hatte nie das Bedürfnis gehabt herauszufinden, warum sie mich nicht wollte. Wozu? Sie wollte mich nicht. Sie hatte mich vor einer Entbindungsklinik in einem Kinderwagen zurückgelassen. Sonst gab es in meinen Augen nichts weiter dazu zu sagen. Ich hatte keine Mutter. Sie existierte nicht.
Aber jetzt …
Na ja, jetzt war es anders.
Jetzt
musste
ich drüber nachdenken, denn jetzt gab es die Möglichkeit, dass an dieser Geschichte nichts stimmte. Dass alles Lüge
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