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Being

Titel: Being Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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lehnte ich mich auf meinem Sitz zurück und versuchte, mich zu entspannen.
    Aber ich merkte schnell, dass das nicht möglich war.
    Der Mann, der vor mir saß, las eine Zeitung. Es war die
Sun
und er schaute in den Sportteil, also wusste ich nicht, ob mein Bild auf der Titelseite war oder nicht, doch als ich mich vorsichtig im Bus umschaute, sah ich, dass auch die meisten anderen Fahrgäste Zeitung lasen. Selbst wenn Ryans Geschichte nur im
Daily Express
stand, was ich bezweifelte, war das Risiko hoch, dass jemand im |107| Bus eine Zeitung mit meinem Bild vorne drauf las.
    Ich zerrte die Hutkrempe noch weiter runter, zog den Kragen hoch und versank tief in meinem Sitz. Ich war nichts … es lohnte sich nicht, mich anzuschauen … ich war niemand, nur ein weiterer Fahrgast, der zur Schule fuhr, zur Arbeit … zusammengesunken auf seinem Sitz, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, das Gesicht in den Händen vergraben … müde und fröstelnd … so wie alle andern.
    Es war das Einzige, was ich tun konnte.
    Ich fühlte mich leer.
    Erschöpft und schmutzig.
    Meine Kleidung war feucht von Schweiß und Regen. Die Augen taten mir weh. Es pochte im Nacken. Meine Hände juckten, als klebten irgendwelche unsichtbaren Rückstände an ihnen.
    Der Bus fuhr weiter.
    Dinge und Orte glitten vorüber. Geschäfte, Büros, Autos, Menschen. Normale Menschen, die normale Dinge taten – gehen, sprechen, Stirn runzeln, lächeln. Sie alle schienen jetzt weit weg von mir. Anders. Ohne Verbindung. Ohne Bezug. Sie waren nicht mehr wie ich. Ich war nicht mehr wie sie. Ich war hier, sie waren dort. Und die Welt da draußen war etwas anderes geworden. Sie war jetzt fremdes Territorium, ein Ort, wo ich nicht hingehörte. Die einzige Welt, die mir noch blieb, war die, die sich hinter meinen Augen verbarg … und ich war nicht mal sicher, ob ich ihr trauen konnte.
    Ich war mir über gar nichts mehr sicher.
    Was war ich?
    Was konnte ich sein?
    Woher kam ich?
    |108| Wurde ich geboren? Wurde ich erschaffen?
    War ich aus Fleisch und Blut?
    Oder nicht?
    Und wenn nicht, woraus dann?
    Wenn ich den Unterschied nicht benennen konnte, was machte es dann für einen Unterschied? Was ist der Unterschied zwischen kompliziertem Fleisch und kompliziertem Metall? Was ist ein Leben? Was macht ein Leben aus? Geschichte? Zeit? Erinnerungen? Empfindungen? Wie siehst du Dinge? Was siehst du? Wie hörst du Dinge? Wie empfindest du? Wie tust du etwas? Wie atmest du? Wie wächst du? Wie denkst du?

    Ich überlegte, ob ich verrückt wurde.
    Ich wusste, es war möglich.
    Das Ganze, alles, was mit mir geschah … es konnte eine Art Täuschung sein. Vielleicht bildete ich mir alles nur ein. Vielleicht hatte ich Casing ja tatsächlich bei einem Amoklauf getötet und das hier war der einzige Weg, damit fertig zu werden – indem ich die Tat nicht als real anerkannte, sie in etwas anderes verwandelte … mich selbst in etwas anderes verwandelte. Ich wusste nicht, ob so etwas möglich war oder nicht, doch ich war im Lauf der Jahre bei genügend Therapeuten gewesen, um zu wissen, dass ich es nicht ausschließen konnte.
    Es war nicht unmöglich.
    Aber dann, überlegte ich, wenn ich wirklich wahnsinnig wurde, wenn wirklich alles eine Täuschung war, dann dürfte ich mir dessen doch gar nicht bewusst sein, oder? Denn wenn ich mir darüber bewusst wäre, hieße das ja, es gäbe gar keine Täuschung. Und ich war mir ja drüber bewusst. Also konnte es keine Täuschung |109| sein. Also wurde ich wahrscheinlich doch nicht verrückt.

    Ich wünschte es mir aber.

    Der Bus hielt an einer Kreuzung. Plötzlich heulte hinter uns eine Sirene auf und alle im Bus schauten aus dem Fenster, als der Polizeiwagen mit Blaulichtgeflacker vorbeiraste, und dann – ehe ich dazu kam, drüber nachzudenken – war schon wieder alles vorbei.
    Ruhig atmete ich aus.
    Ich schob meine Hand in die Jackentasche und tastete vorsichtig nach meinem Bauch. Was immer es war, was ich in der vergangenen Nacht gesehen hatte … es war jedenfalls da. Keine Illusion. Keine Täuschung. Ich hatte es gesehen. Es war da.
    Du musst es akzeptieren.
    Akzeptieren – und dann?
    Nichts. Nur akzeptieren.
    Ich schaute zu dem Mann hinüber, der in der Schlange vor mir gestanden hatte. Zu dem Mann, der nach Stratford wollte. Ich musterte ihn – glattes Haar, billige Jacke, kränklich blasse Haut. Was weiß
er
über sich? Kümmert es ihn, wie er funktioniert? Kümmert es ihn, was in seinem Körper ist?
Weiß
er, was in seinem Körper ist?

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