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Being

Titel: Being Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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war. Ich war gar nicht direkt nach der Geburt verlassen worden. Ich war gar kein Waisenkind. Die Nichtexistenz meiner Mutter rührte nicht daher, dass sie mich nicht wollte: Sie existierte einfach nicht. Ich hatte keine Mutter. Hatte nie eine gehabt. Ich war ein Ding – ein geburtsloses, altersloses Ding – und Dinge haben keine Mutter.

    Ich versuchte immer noch, mir das klarzumachen, als ich am U-Bahnhof |114| Finsbury Park ausstieg, doch ich kriegte es nicht so richtig in meinen Kopf. Die Gedanken schwammen, trieben dahin … merkwürdig irreal. Es war, als ob ich im Erwachen aus einem Traum festsäße. Alles um mich herum schien losgelöst und fern von mir – die regnerischen Straßen, der dunkle Himmel, die Taxistände und die Minimärkte. Ich war da, mittendrin – bewegte mich, existierte, nahm Raum ein –, und doch hatte ich keine natürliche Verbindung mit allem. Es fehlte die Zugehörigkeit.
    Ich machte mich auf und folgte der Seven Sisters Road. Es regnete jetzt stark und durchnässte mich bis auf die Haut. Als ich den Kopf schnell senkte, tröpfelte der Regen aus meinem Hut und ich fing die Tropfen mit der Zunge auf. Sie schmeckten kalt und bitter.
    Ich ging weiter, verloren in mir.
    Auf der Suche nach mir.
    Ich wusste, ich hatte ein Ich, eine Geschichte, aber alles schien so vage – nur halb erinnerte Bilder, Vorstellungen von Orten, Menschen, Gefühlen, Tagen – und ich wusste nicht, ob all dies wirklich mir gehörte oder nicht. Ich wusste nicht, was ich noch glauben sollte.
    Was konnte ich glauben?
    All die Heime, in denen ich gewesen war, all die Pflegeeltern, die Betreuer, die Sozialarbeiter, die Therapeuten … konnte ich ihnen glauben? Vielleicht waren sie nie das gewesen, was sie zu sein schienen. Vielleicht waren sie nie dazu da gewesen, für mich zu sorgen – stattdessen waren sie da gewesen, um mich im Auge zu behalten. Mich zu beobachten. Mich zu studieren. Vielleicht hatten alle von Anfang an Bescheid gewusst – was auch immer es war, worüber sie Bescheid wussten.
    Vielleicht hatte sogar Bridget Bescheid gewusst.
    |115| Es tat weh, sich das vorzustellen, doch ich wusste, es war nicht unmöglich – dass sie dazugehörte, dass sie von Anfang an Bescheid gewusst hatte, dass am Montag gar nichts mit ihrer Schwester gewesen war …
    Ich
wollte
das nicht glauben.
    Aber ich wusste es einfach nicht.
    Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte.

    Ich hatte jetzt die U-Bahn -Station Manor House erreicht. Der Park lag links und die Kreuzung mit der Green Lanes direkt vor mir. Auf der anderen Straßenseite gab es einen Hähnchengrill. Ich war zwar nicht hungrig, doch ich hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen und wusste, ich sollte besser. Nahrung, Brennstoff, Energie.
    Ich brauchte Nahrung. Mein Körper brauchte Nahrung …
    Das ergab keinen Sinn.
    Ich atmete, ich aß, ich trank, ich verdaute. Ich schied aus. Ich schlief. Ich träumte. Ich hatte Schmerzen. Ich spürte den Einfluss von Drogen – Alkohol, Betäubungsmittel. Ich hatte schlechte Gefühle. Gute Gefühle. Ich hatte Wünsche. Ich wurde müde. Ich dachte nach – über Gutes, Schlechtes, Unnützes. Ich wollte nicht sterben. Ich lachte. Ich lächelte. Ich summte, ich pfiff, ich gähnte. Ich folgte den funktionalen Regeln eines Organismus. Trotzdem schien ich aus anorganischen Materialien gemacht zu sein …
    Das ergab einfach keinen Sinn.
    Es war egal.
    Ich überquerte die Straße und kaufte zwei Portionen Hähnchen, Pommes und Kaffee, dann nahm ich alles mit zurück über die Straße, ging in den Park und setzte mich auf eine Bank.

    |116| Das Hähnchen war nicht durch. Außen heiß und in der Mitte kalt. Die Pommes waren hart und an den Enden schwarz und der Kaffee war dünn. Aber es war okay. Es war etwas zu essen und zu trinken. Es war Brennstoff. Es war Energie.
    Ich schaufelte alles in mich hinein und dachte darüber nach, wo ich hinwollte.

    Es ist schwer, Freunde zu finden, wenn man ständig weiterzieht, und ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht, weiterzuziehen. Andere Heime, andere Schulen … ein paar Jahre hier, ein paar Jahre da. Nie hatte ich irgendwo mehr als ein paar Jahre gelebt. Deshalb hatte ich vor langer Zeit gelernt, dass es nicht lohnte, sich auf jemanden einzulassen, denn kaum tat man das, war man schon wieder weg. Es war mir ohnehin recht, allein zu sein. Der ganze Kram, der mit Freundschaft einhergeht, hatte mich nicht interessiert – die Regeln und Spiele, das Auf und Ab. Und davon

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