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Being

Titel: Being Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich, dieselbe Person, die ich immer sah, wenn ich in den Spiegel schaute … dann plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Auf einmal sah ich mich, wie andere mich vielleicht wahrnahmen – einen groß gewachsenen jungen Mann mit braun gebrannter Haut, die Haare lang und dunkel, der Körper hager und muskulös. Ich starrte mich an und fühlte mich seltsam verlegen.
    Ich sah aus wie ein Mann.

    |323| Die Straßen waren voller Leben, als wir die Wohnung verließen. Alle gingen zur Kirche. So wie immer. Familien, Paare, große Kinder, kleine Kinder … jeder im Sonntagsstaat: die Frauen in langen Röcken und Hut, die Männer in dunklen Anzügen. Die Sonne schien, die Kirchenglocken läuteten, alle lächelten und unterhielten sich miteinander. Es war ein schönes Gefühl …
    Wir gingen hinein und der Gottesdienst begann. Und dann wurde es wirklich sonderbar.
    Ich verstand das einfach nicht – dieses seltsame Gefühl von Vorbestimmtheit, diese unheimlichen Rituale, die wahnsinnigen Vorstellungen und die festliche Kleidung. Es wirkte alles so lächerlich. Gott, Jesus … Brot und Wein, Tod und Herrlichkeit … ich meine, es machte mir alles nichts aus, das ganze Drum und Dran gefiel mir sogar – die Klänge, die Düfte, die Musik, die Farben, die Kerzen, der Schnickschnack, die seltsam berückenden Worte …
das ist mein Leib, das ist der Kelch meines Blutes …
es störte mich kein bisschen. Ich fand es nur einfach unvorstellbar, dass das tatsächlich irgendwer
glaubte
.
    Es war auch ziemlich eigenartig, von so vielen Männern in dunklen Anzügen umgeben zu sein. Normalerweise trug niemand im Dorf einen Anzug – meistens war es dazu viel zu heiß, außerdem gab es schlichtweg keinen Grund, einen zu tragen. Deshalb war ich es nicht gewohnt, dunkle Anzüge zu sehen, und ich hatte irgendwie vergessen, wie sehr sie mich an Ryan und seine Leute erinnerten. Doch plötzlich wurde die Erinnerung wieder wach. Und als ich so in der Kirche saß und den Priester endlos über Opfer und Auferstehung reden hörte, merkte ich auf einmal, wie ich mich in den Reihen der dunkel gekleideten Männer umschaute |324| und nach etwas suchte, das nicht passte – Augen, Gesichter, Gefühle, die nicht hierhergehörten.
    Ich sah nichts, was ich nicht sehen wollte, trotzdem gefiel es mir nicht. Die Erinnerungen, die Ängste, die Schatten der Schatten …
    Ryan.
    Die Vergangenheit.
    Gespenster.
    Ich wollte nicht über Gespenster und Schatten nachdenken. Ich wollte nur
hier
sein – mit Eddi zusammen in einer kleinen Kirche aus Stein sitzen an einem Sonntagmorgen in Tejeda.
    Nichts weiter.

    Nachher, als wir nach Hause gingen, fragte ich Eddi, ob es ihr Spaß gemacht habe.
    »Man geht nicht zur Messe, um Spaß zu haben«, antwortete sie, ging ins Schlafzimmer und zog sich um.
    Ich folgte ihr. »Nein? Wozu dann?«
    »Keine Ahnung … ist eben Kirche. Verstehst du, in die Kirche gehen …«
    »Glaubst du an irgendwas davon?«
    Sie fing an, das Kleid auszuziehen. »Als kleines Mädchen, als ich auf einer Klosterschule war«, erzählte sie mir, »hab ich Sünden gebeichtet, die ich gar nicht begangen hatte.« Sie sah mich an. »Wir waren noch kleine Kinder … wir waren zu jung für Sünden. Aber wir hatten viel zu große Angst, keine zu beichten. Also erfanden wir welche: Ich hatte in einem Laden Süßigkeiten geklaut. Ich hatte schlimme Gedanken gehabt. Ich hatte ein böses Wort zu Schwester Mary gesagt.« Einen Moment lang verdunkelte sich ihr Gesicht, ihre Augen verloren sich in der Vergangenheit, dann aber |325| schüttelte sie den Kopf und scheuchte die Erinnerung fort, wandte sich wieder zu mir und lächelte. »Ich finde, was Sünden betrifft, habe ich noch Kredit. Ich hab so viele Jahre lang erfundene Sünden gebeichtet, dass ich jetzt umsonst sündigen darf.« Sie stieg aus ihrem Kleid und kam auf mich zu. »Hast du Lust, gemeinsam mit mir eine Sünde zu begehen?«
    Ich sah in ihre nackten blauen Augen. »Ich glaub nicht an Sünde.«
    »Das ist schon okay«, sagte sie und knöpfte mir mein Hemd auf. »Das Glauben kannst du mir überlassen. Ich hab mehr als genug für uns beide.«

|326| Fünfundzwanzig
    J edes Jahr in der ersten Juniwoche feiern die Einwohner Tejedas ein Fest zu Ehren ihrer Schutzheiligen La Virgen de las Maravillas. Die Feierlichkeiten dauern vier Tage, beginnen am Freitag und steigern sich über das Wochenende, bis das Fest am Montagabend mit der großen Prozession durch das Dorf seinen Höhepunkt erreicht.
    Jorge

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