Beinssen, Jan
Opportunismus in Bezug auf die Entschlüsse ihrer Freundin machte sie sich klar, dass sie diesmal zwar nicht hinter verschollenen Kunstwerken, sondern hinter Gold herjagten – unvernünftig war ihr blinder Aktionismus aber genauso wie vor einem Jahr an der Ostsee. Warum bloß machte sie diesen Blödsinn ein zweites Mal mit?
Gabriele hegte ähnliche Gedanken, hielt ihren Forschungs-und Abenteuerdrang aber nicht für unvernünftig, sondern allenfalls für verwegen. Ohne ein gewisses Maß an Verwegenheit – so war sie sich sicher – hatte noch niemand etwas Nennenswertes bewegt oder gar ein Vermögen angehäuft. Gabi hatte beides vor und war davon überzeugt, es diesmal zu schaffen. Sie nutzte die Zeit, während sich die Taxe durch den Großstadtverkehr quälte, um Sinas ›Hausaufgaben‹ abzufragen: »Du wolltest dich schlaumachen. Was ist bei deinen Recherchen herausgekommen?« Da Sina nicht sofort begriff, holte Gabi aus: »Ich habe den Goldaspekt abgeklopft, du wolltest dich um diesen Hinweis auf Schalck-Golodkowski kümmern.«
»Ach ja«, bestätigte Sina. Ihre Schulter stieß gegen die ihrer Freundin, als der Wagen über eine Bodenwelle holperte. »Ich habe ein paar Basisdaten zusammengesucht. Viel ist es nicht: Alexander Schalck-Golodkowski war 1966 der maßgebliche Mann beim Aufbau des Bereichs Kommerzielle Koordinierung,
in Kurzform KoKo genannt. Er sollte mit verdeckten Geschäften Devisen in harten Währungen beschaffen, die für die DDR ja lebenswichtig waren.«
»Ja, er war ein begnadeter Finanzjongleur, ich weiß«, meinte Gabriele. »Was noch?«
»Er war auch Oberst bei der Staatssicherheit und am Ende Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel – mit allen Reiseprivilegien, die dazugehörten.«
»Jaja, Kindchen, mir ist bewusst, dass dieser Golodkowski eine schillernde Persönlichkeit in der tristen DDR darstellte. Aber mich interessieren mehr die wirtschaftlichen Aspekte seines Apparats. Erzähl mir etwas über die KoKo.«
»Die KoKo hatte Zugriff auf Westwaren aller Art und sogar auf Beschlagnahmtes des DDR-Zolls. Diese Organisation war eine Art Krake, die ihre Tentakeln weit ausgestreckt hatte in dubiose Geschäftsfelder auf dem ganzen Globus und im Zweifelsfall sogar nach DDR-Recht illegale Waren beschaffen konnte. Indizierte Pornos zum Beispiel oder Drogen. Beides heiß begehrt, wie du dir vorstellen kannst.«
Gabi nickte stumm. Dann fragte sie. »Die KoKo hatte ihren Hauptsitz hier in Berlin, ist das richtig?«
»Ja, in der Wallstraße, wie Engelhardt es schon angedeutet hatte. Muss sich um einen recht schlichten Bau handeln, aber du kannst davon ausgehen, dass er mit allerlei Extras gespickt war.«
»Wallstraße sagst du – ist das nicht Berlin-Mitte? Da, wo auch das Staatsbankgebäude steht?«
Unerwartet meldete sich der Taxifahrer zu Wort. »Ja klar, liegt ganz in der Nähe.«
Als das Taxi in der Eisenbahnstraße im Stadtteil Kreuzberg das Tempo drosselte und langsam an den Gehsteig rollte, glaubte Sina zunächst an ein Versehen. Die Straße mit ihrem notdürftig geflickten Kopfsteinpflaster machte an sich schon einen trostlosen Eindruck. Bedrückender noch wirkten auf Sina die grauen Wohnblöcke rechts und links der Fahrbahn. Die einzigen Farbtupfen in der tristen Wohngegend waren einige Graffiti an den Wänden, doch auch die waren nicht besonders schön anzusehen.
»Warum halten wir?«, erkundigte sich Sina. »Hier soll doch nicht etwa unser Hotel sein?«
Gabriele bezahlte den Fahrer. »Von einem Hotel war nie die Rede. Da musst du mich falsch verstanden haben.«
»So?«, fragte Sina fassungslos.
»Wir kommen bei einer Bekannten von mir unter, die eine Hinterhofwohnung an Studenten vermietet. Zurzeit steht diese Wohnung leer, und wir dürfen sie nutzen.«
Sina stieg widerwillig aus. »Ich nehme an, damit sparst du eine ganze Stange Geld.«
»Richtig – wir wohnen dort umsonst.«
Der Grund für die Großzügigkeit ihrer Gastgeberin wurde Sina schnell bewusst: Sie passierten einen heruntergekommenen Innenhof mit einer schäbigen Mülltonnenparade, ramponierten und größtenteils
zugeklebten Briefschlitzen und einer Flotte Fahrräder, die trotz ihres desolaten Zustands mit dicken Ketten gesichert waren. Das Treppenhaus war zugig und verfügte über abgetretene Holzstufen. Auch die Wohnung selbst war alles andere als ein Lichtblick. Zwar war Sina nicht besonders anspruchsvoll, aber die beiden Zimmer, die sie im dritten Stock vorfand, besserten ihre Laune nicht auf:
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