Beinssen, Jan
Die Wände waren in dunklen Tönen gestrichen, die wenigen Möbel sahen aus, als wären sie für die Sperrmüllsammlung bestimmt. Es gab eine winzige Küchenzeile und ein Klo, das lediglich durch einen Vorhang abgetrennt war.
»Ist doch ganz annehmbar«, kommentierte Gabriele, aber es war ihr anzumerken, dass auch sie auf etwas mehr Komfort gehofft hatte. Anstatt aber in Sinas Jammern einzustimmen, stellte sie ihren Koffer ab und suchte zielstrebig nach einem Telefon. Sie fand es neben dem Matratzenlager vor einem hohen, in den Hinterhof zeigenden Fenster. Ein alter Apparat aus schwarzem Hartplastik. Gabriele wählte ihre eigene Nummer. »Ich muss kontrollieren, ob Friedhelm mich im Laden gut vertritt«, erklärte sie Sina.
Ihr Bruder nahm kurz darauf ab und versicherte, dass er alles im Griff habe. Ja, sagte er pflichtbewusst, natürlich halte er die Ladenöffnungszeiten ein. Nein, er mache keine verlängerten Mittagspausen. Und, ja, er werde das Schaufenster morgen umdekorieren.
Gabriele wirkte zufrieden, wenngleich sie Friedhelm sein zur Schau gestelltes Pflichtbewusstsein
nicht ganz abnahm. Aber immerhin: Er kümmerte sich, und das war mehr, als man normalerweise von ihm erwarten konnte. Gabriele wollte bereits auflegen, als Friedhelm noch etwas einfiel.
»Da hat jemand für euch angerufen. Wollte entweder dich oder Sina sprechen. Ein Herr Flämich oder so ähnlich. Kennst du den?«
Gabriele sah fragend auf. »Flämich? Nein, ich kenne keinen Herrn Flämich. Was wollte er denn?«
»Er hat etwas ausrichten lassen. Sagte, er sei Fotograf und hätte euch neulich bei dieser toten Journalistin getroffen.«
»Ach, du meinst Flemming«, fiel ihm Gabi ins Wort. Auch Sina wurde nun aufmerksam und trat näher. »Was lässt er denn ausrichten?«
Friedhelms Antwort ließ auf sich warten, während er offenbar nach einem Notizblock mit der hinterlassenen Nachricht suchte. »Er sagte, dass es unerwartete Neuigkeiten gibt. Frau Probst ist wohl doch nicht an einem normalen Herzinfarkt gestorben.«
»Nicht?« Gabriele war alarmiert. Was sonst kam denn als Todesursache infrage?
»Nein. Es muss etwas anderes gewesen sein. Dieser Flämbing meinte, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgenommen hat.«
Die Nachricht war für die Gabriele und Sina wie ein Schock. Als hätte sich eine böse Ahnung bewahrheitet. Ohne es auszusprechen, gingen beide davon aus,
dass die Probst ermordet worden war. Warum sonst sollte sich die Staatsanwaltschaft einschalten?
Statt wie geplant schon heute die Recherchen in Berlin aufzunehmen, entschieden sie sich dazu, erst einmal essen zu gehen. Denn was sie jetzt dringend brauchten, war Ablenkung. Beide wollten auf andere Gedanken kommen und sich nicht von diffusen Angstgefühlen lähmen lassen.
Sie fanden einen ansprechenden Italiener auf der anderen Spreeseite, ließen sich geröstete Brotscheiben mit Pecorino, geschmortes Kaninchen an Oliven und anschließend Quitten mit Vanilleeis schmecken. Danach suchten sie sich eine schnuckelige Kneipe. Schnell fanden sie Anschluss, denn die vorwiegend männliche Kundschaft hielt sich in derben Komplimenten mit ›Berliner Schnauze‹ nicht zurück. Sina hatte nichts dagegen einzuwenden, Gabriele aber ging das brachialcharmante Baggern schnell auf die Nerven.
Gleichwohl zeigte sie sich großzügig und zahlte die Zeche – wahrscheinlich hatte sie doch ein etwas schlechtes Gewissen wegen ihrer miesen Unterkunft, mutmaßte Sina.
Es war dunkel und ein feuchter Nebel hing über den Straßen, als sie den Heimweg antraten. Da sie die U-Bahn knapp verpasst hatten und es ihnen ohnehin nach frischer Luft verlangte, beschlossen sie, die nicht allzu lange Strecke zu Fuß zurückzulegen. Von der U-Bahnstation Warschauer Straße steuerten sie auf die Oberbaumbrücke zu, um den Fluss zu überque
ren. Es handelte sich um eine wunderschöne historische Brücke in ziegelrot, mit Bögen und Zinnen und in der Mitte von zwei Türmen dominiert, die einen orientalischen Einschlag aufwiesen. Ein starker Kontrast zum U-Bahnhof, der an Hässlichkeit kaum zu überbieten war, fand Sina, während sie langsam die Überführung passierten. Bei näherer Betrachtung war aber auch die Brücke ziemlich heruntergekommen und verlor mehr und mehr an Flair, je dichter sie den zentralen Turmbauten kamen. Überall lag Müll herum, es roch nach Urin.
Der Nebel wurde dichter. Über der Spree lag eine undurchdringliche Wolke aus Wasserdampf und Abgasen, gesättigt durch die
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