Beinssen, Jan
Zweitaktermotoren der Trabanten, die auch drei Jahre nach dem Mauerfall noch zu Hunderten durch die Stadt knatterten. In der feuchtkalten Luft zog Sina fröstelnd den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Die Schritte der beiden Frauen hallten von den Brückenbögen wider, wurden aber mehr und mehr von den wattedichten Dunstschleiern verschluckt. Andere Fußgänger tauchten aus den Schwaden auf, hasteten an ihnen vorbei und verschwanden sogleich wieder in der Dunkelheit.
Sie waren bereits auf der Kreuzberger Seite der Brücke angelangt, als ihnen ein weiterer Passant entgegenkam. Zunächst war es nur ein großer schwarzer Schatten, der sich aus dem Dunst löste. Kurz vor ihnen blieb er stehen und fragte mit tiefer Stimme: »Verzeihung, die Damen. Haben Sie Feuer?«
Etwas an der Art, wie er das fragte, ließ Gabrieles
Nackenhärchen aufstellen. Ohne sich die Art der Bedrohung näher erklären zu können, spürte im selben Moment auch Sina, wie sich ihr Puls beschleunigte. Alles, was sie in den folgenden Sekunden beobachtete, spielte sich für sie wie in Zeitlupe ab.
Der Mann, dessen Gesicht in der Dunkelheit noch immer nicht zu erkennen war, griff in die Innentasche seines Mantels. Da er nach Feuer gefragt hatte, wollte er wahrscheinlich eine Zigarettenschachtel hervorholen. Oder aber etwas ganz anderes! Jeder Millimeter von Sinas Körper war angespannt. Sie beobachtete mit Argusaugen die langsamen Bewegungen des Mannes. Als seine große kräftige Hand wieder unter dem Revers des Mantels auftauchte, hielt er tatsächlich etwas in der Hand. Aber es war keine Schachtel, sondern ein dünner, länglicher Gegenstand. Der schwache Schein einer Brückenlaterne ließ einen transparenten Schaft mit nadelspitzem Aufsatz erahnen: eine Spritze!
Gabriele hielt die Luft an. Auch sie erkannte die Nadel in der kräftigen Hand des Mannes. Angesichts der plötzlichen Bedrohung war sie unfähig, sich vom Fleck zu bewegen.
Sina dagegen reagierte sofort. Sie holte tief Luft und tat das einzig Sinnvolle in dieser Situation: Sie brüllte aus Leibeskräften. »Hilfe! Wir werden überfallen! Hilfe, Polizei!«
»Blöde Schlampe!«, brummte der Mann und trat einen Schritt zurück. Das Laternenlicht erfasste nun
auch sein breites, verschlagenes Gesicht und legte sein rötliches kurzes Haar offen. Sinas Hilferuf hatte ihn ganz offensichtlich aus dem Konzept gebracht. Doch das Überraschungsmoment hielt nicht lange an.
Mit grimmigem Ausdruck preschte er erneut vor. Mit der einen Hand packte er Sina am Handgelenk, mit der anderen holte er aus. Voller Entsetzen sah Sina die Spritze aufblitzen, aus deren Nadel eine kristallklare Flüssigkeit tropfte. Starr vor Angst konnte sie nicht ausweichen, als ihr Angreifer die Nadel auf ihren Arm niedersausen ließ.
In derselben Sekunde durchbrach ein Zischen die angstvolle Stille. Sina sah aus den Augenwinkeln, wie Gabriele sich dem Mann entgegenstellte. Sie hatte sich aus ihrer Angststarre gelöst und hielt einen kleinen bauchigen Flakon unmittelbar vor das Gesicht des Angreifers.
Die Parfümwolke traf den Mann direkt in die Augen. Mit einem wütenden Aufschrei wich er zurück. Er ließ die Spritze fallen und presste sich die zu Fäusten geballten Hände vors Gesicht. »Ihr verfluchten Dreckshuren!«, wetterte er.
Gabriele widerstand der Versuchung, dem außer Gefecht gesetzten Aggressor einen Schubs in Richtung Spree zu versetzen. Stattdessen nahm sie Sina bei der Hand und führte sie schnellen Schrittes von der Brücke.
Am Kreuzberger Ufer, in sicherer Umgebung zwischen einer Gruppe später Kneipenbesucher,
blieben beiden Frauen nach Atem ringend stehen. Zitternd und von Schmerzen am gequetschten Handgelenk geplagt, starrte Sina in Richtung der Oberbaumbrücke. Minuten vergingen. Die beiden Frauen ließen sie einfach verstreichen, zu erschöpft, um noch irgendetwas zu sagen.
Nichts geschah mehr an diesem Abend. Der Mann – der Ire, wie sich beide sicher waren – hielt sich ihnen fern.
14
Der Sitz der früheren DDR-Staatsbank in der Französischen Straße beeindruckte die Frauen allein durch seine Größe und protzige Fassade. Es war ein typischer Bau aus dem späten 19. Jahrhundert. Auf dem sandsteingemauerten Erdgeschoss mit hohen, bogenförmig überspannten Fenstern fußte eine Säulengalerie, die sich über zwei weitere Stockwerke bis zum prachtvoll herausgearbeiteten First erstreckte. Die Maße von Fenstern und Türen waren großzügig überzeichnet, sodass sich jeder Besucher
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