Beinssen, Jan
Glückssträhne endet einmal. Bedenken Sie das bei Ihren nächsten Schritten.«
Sina starrte die alte Frau voller Hass und Verachtung an. Sie suchte in ihren kleinen, grauen Augen nach dem Grund für die unvorstellbare Brutalität, mit der sie vorging. Nach dem Grund für ihre absolute Gewissenlosigkeit. Doch statt einer Antwort auf ihre Fragen stieß sie auf etwas anderes – auf eine Ahnung, ein drohendes Gefühl des Wiedererkennens. Die alte Hexe war …
In Sinas Kopf explodierten die Gedanken, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht nur den grobschlächtigen Iren bereits kannte. Auch der alten Frau war sie schon einmal begegnet, wenn sie ihr auch nie zuvor gegenübergestanden hatte: Es handelte sich um dieselbe Frau, die im Peenemünder Bunker das Wort geführt hatte – die Anführerin der teuflischen Ver
brecherbande, die Kontrolle über die Nazi-Bombe erlangen wollte!
Nun stand dieses Schreckgespenst in Fleisch und Blut vor ihr. Die Geister der Vergangenheit waren wieder da!
Sina nahm kaum wahr, wie sich der Ire neben ihr aufbaute, so sehr war sie von der unheilvollen Präsenz der alten Hexe gefangen. Erst im letzten Moment bemerkte sie, dass der Rothaarige wieder eine Spritze in der Hand hielt. Doch da war es schon zu spät, sich zur Wehr zu setzen. Die Nadel drang in die Haut ihres Oberarms wie ein Messer durch warme Butter.
Sofort verschwammen Sinas Sinneseindrücke. Alles drehte sich. Sie sah nur noch schemenhafte Konturen um sich herum. Dann verschwanden auch diese und wichen einer samtenen Dunkelheit.
Als Sina die Augen aufschlug, wurde sie vom Licht der Morgensonne geblendet. Es schien durch das Zimmerfenster und reflektierte vom Handspiegel auf Sinas Schminktisch. Sie richtete sich auf und sah sich um. Sie war in ihrer eigenen Wohnung Kein Zweifel. Sie senkte den Blick und sah an sich herunter. Sie trug noch immer dieselben luftigen Dessous, mit denen sie sich schlafen gelegt hatte. Sina rieb sich die Stirn. Konnte ein Traum so realistisch sein?
Als sie aufstand, bemerkte sie ihre zittrigen Knie. Selbst wenn es nur ein Traum gewesen war, der sie in dieser Nacht umgetrieben hatte, hatte er sie heftig
geschlaucht. Sie ging mit unsicheren Schritten ins Bad und goss sich ein großes Glas Wasser ein. Sie stürzte es in einem Zug herunter. Dann sah sie in den Spiegel, schüttelte sich das krause Haar aus der Stirn und musterte prüfend ihr Antlitz.
Müde sah sie aus. Müde und abgespannt. Aber sonst fehlte ihr nichts. Sie war gesund, hatte keine Schmerzen oder Anzeichen von Übelkeit. Sina entdeckte nichts, was auf ihre albtraumhaften Erinnerungen an die letzte Nacht hindeutete. Sollte das alles tatsächlich nur ihrer Fantasie entsprungen sein? Waren das etwa erste Anzeichen von Paranoia?
Sina putzte sich die Zähne, wusch sich Gesicht und Achseln. Sie trug Deo auf, kämmte sich fahrig die Haare und verließ das Bad. Aus dem Kühlschrank nahm sie sich Margarine und Konfitüre, aus dem Brotkorb zwei Scheiben Toast. Während sie mit der rechten Hand die Brote strich, wählte sie mit links die Nummer von Gabriele. Den Telefonhörer hielt sie unters Kinn geklemmt.
»Wer stört um diese unchristliche Zeit? Sina, bist du das etwa?«, meldete sich eine Gabi, die noch verschlafener klang, als Sina sich fühlte.
»Ja, ich bin’s«, antwortete Sina. »Ich musste dich anrufen, weil ich mich wie gerädert fühle. Das Detektivspielen ist nichts für mich. Ich habe Träume, bei denen einem die Haare zu Berge stehen.«
»Und?«, kam es misstrauisch durch den Hörer. »Was willst du mir damit sagen? Jeder träumt mal schlecht.«
»Ja, aber das war kein normaler Traum. Ich fange langsam an, die Wirklichkeit mit meiner Einbildung zu verwechseln. Genau wie damals auf dieser verfluchten Insel. Ich bin nervlich ziemlich am Ende.«
Gabi sagte darauf erst einmal gar nichts. Dann holte sie tief Luft und verkündete mit gepresster Stimme: »Falls du vorhast, dich krankzumelden: Vergiss es! Ich habe für deinen Kursus bezahlt, und du wirst an den Unterrichtsstunden bis zum bitteren Ende teilnehmen.« Etwas versöhnlicher fügte sie hinzu: »Sieh es mal so, Sina: Falls wir den Goldschmugglern nicht auf die Schliche kommen, hast du wenigstens etwas fürs spätere Berufsleben gelernt.«
»Ich will aber keine Kellnerin werden«, protestierte Sina.
»Je vielschichtiger die Ausbildung heutzutage ist, desto besser«, blieb Gabi beharrlich.
»Also gut«, willigte Sina mit leisem Murren ein. »Aber besonders große Lust dazu
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