Beinssen, Jan
Erfahrungen auf Usedom. Zumindest legen das unsere Funde im Haus von Frau Probst nahe.«
»Aber …« Gabi mahlte mit den Zähnen. Sie konnte und wollte nicht mehr argumentieren. »Aber es kann auch alles purer Zufall sein.«
»Das glauben Sie selbst nicht.« Diehl deutete auf die Anrichte, auf der Gabrieles Kaffeemaschine gluckerte. »Darf ich?« Er goss sich ein. »Möchten Sie auch einen? Mit Milch und Zucker oder schwarz?«
»Schwarz«, sagte Gabriele gereizt. »Schwarz wie meine Seele.«
Sina befolgte Kerns Anordnung und schlug den Ordner auf. Ihre Finger zitterten, als sie bis zu der geforderten Seite vorblätterte. Hoffentlich bemerkte Kern ihre Aufregung nicht!
Sina wartete, bis Kern wieder zum Pult vor gegangen war und zu dozieren begann. Erst jetzt wagte sie, durchzuatmen. Was war mit di Lorenzo geschehen?, fragte sie sich erneut. Hatten sie ihn tatsächlich aus dem Weg geräumt, weil er Sina nicht gut genug überwacht hatte? Aber dann …, dann wäre sie selbst mit Sicherheit die Nächste, die sie sich vornehmen würden! Schließlich hatte sie all die in der letzten Nacht an sie gerichteten Warnungen ignoriert und war erneut in die Akademie gegangen.
Sina stockte bei diesen Gedanken abermals der Atem. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte sie hektisch nach Luft und blies sie leise aus. Erst der kleine Italiener und als Nächstes sie … Mit den Spitzen ihrer Zeigefinger massierte Sina ihre Schläfen, um das starke Pochen in ihrem Kopf zu mildern. Die Blondine von gegenüber warf ihr einen besorgten Blick zu.
Mit wenigen schnellen Schlucken trank Gabriele den Kaffee aus. Er schmeckte viel zu stark und bitter. Sie verzog den Mund. Dann stand sie ebenfalls auf und reichte Diehl die Hand. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Kommissar, bringe ich Sie jetzt zur Tür.«
Diehl zögerte, bevor er Gabrieles Hand fest in die seine nahm. »Ich habe eine Menge dagegen. Denn wenn ich gehe, nehme ich all die Fragezeichen wieder mit, mit denen ich gekommen bin. Einige davon betreffen meine beiden aktuellen Fälle. Andere krei
sen um das unschöne Thema Nuklearwaffen. Da rattert und raucht es in meinem Beamtenhirn: Ich denke an Terrorismus und daran, den Verfassungsschutz einschalten zu müssen. Das BKA …«
Gabriele umrundete den Tisch und dirigierte Diehl mit spürbarem Druck auf seinen Arm aus dem Hinterzimmer. »Wenn Sie und der Verfassungsschutz und meinetwegen auch das Bundeskriminalamt uns vor einem Jahr auf dieser Teufelsinsel zur Hilfe gekommen wären, wären wir Ihnen aus Dankbarkeit um den Hals gefallen. Aber hier in meinem Laden kann ich weder Ihren Rat noch Ihre Drohungen gebrauchen.« Sie funkelte ihn an. »Wenn Sie etwas Konkretes gegen mich in der Hand haben, kommen Sie wieder. Lassen Sie einen Streifenwagen vorfahren und mich ganz offiziell abführen. Doch solange das nicht der Fall ist, lassen Sie mich und meine Freundin in Ruhe. Oder ich beschwere mich über Sie beim Polizeipräsidenten. Und wenn das nicht reicht, beim Oberbürgermeister. Und jetzt raus.«
Diehl, der viel größer und kräftiger war als Gabriele, ließ sich rückwärts durch den Verkaufsraum schieben. Auf Gabrieles Schimpfkanonade reagierte er ohne Widersprüche. Doch als sie an der Ladentür angekommen waren, sagte er sanft: »Ich mag Sie, Frau Doberstein. Das ist kein Ermittlungstrick und keine Finte, sondern meine ehrliche Meinung. Bitte rufen sie mich an, wenn Sie mir doch noch helfen oder umgekehrt meine Hilfe in Anspruch nehmen wollen.«
Als er ging, blieb Gabriele mit dem Gefühl zurück, dass Diehl sie alleingelassen hatte. Der große starke Mann war gegangen – und Gabriele fühlte sich mit einem Mal klein und verletzlich. Das war eine Wahrnehmung, die ihr bisher fremd gewesen war. Denn schließlich stand sie selbst ihren Mann. Seit über 40 Jahren.
Der Kurs erschien Sina wie eine Farce. Kern redete über Verhaltensmaßregeln, korrekte Kleidung, Wertschätzung des Gastes, die richtige Anordnung des Bestecks, während in Sinas Kopf die Gedanken um Blut und Gewalt, um Folter und Tod kreisten. Sie nahm ihre Umgebung kaum mehr wahr. Kerns Worte kamen verzerrt und unvollständig bei ihr an, ihre Mitschüler teilten sich in ihren Augen in gebrochene Bildfragmente auf wie in einem Kaleidoskop.
Sina schüttelte den Kopf. Was sollte sie bloß tun? Wenn sie jetzt aufstehen und gehen würde, liefe sie ihren Häschern wahrscheinlich geradewegs in die Arme. Sicher warteten sie draußen schon auf sie: die alte Hexe und
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