Beinssen, Jan
und Fiktion waren für sie kaum noch zu unterscheiden.
Sie durchquerten das Foyer, gingen die Treppenstufen ins Kellergeschoss hinab und liefen durch den schummrigen Gang. Sina war mulmig zumute. Aber wenigstens wähnte sie Blondchen an ihrer Seite. Sie war nicht allein, immerhin.
Noch während Sinas Gedanken um sich selbst und ihr Schicksal kreisten, machte der kleine Italiener Anstalten, Sina das große Rätsel zu offenbaren, auf dessen Lösung sie die letzten Tagen so erpicht gewesen war: Di Lorenzo blieb vor der Tür des Tresorraums stehen – und holte sein Schlüsselbund hervor.
Die Luft stand still. Alles erstarrte in der Bewegung. Sina konnte es kaum fassen. Unerwartet war sie ihrem Ziel so nahe gekommen, wie sie es sich längst nicht mehr erhofft hatte. Di Lorenzo war drauf und dran, den Tresorraum aufzuschließen. Den geheimen Lagerplatz des DDR-Goldes! Warum tat er das? Was konnte das bedeuten? Was hieß das für Sinas weiteres Schicksal?
»Kommen Sie bitte mit, meine fleißigen Helferinnen«, sagte di Lorenzo leichthin. »Sie werden sehen. Es ist gar nicht schwer.«
Mit großen Augen und voller Erwartung betrat Sina den Kellerraum. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie das Gold schon sehen. Blank polierte Barren, in Regalen geschichtet, fein säuberlich gestapelt. Ein Wert von vielen Millionen Mark.
»Nehmen Sie bitte den Stapel und Sie, Frau Rubov, den anderen.« Die Stimme des kleinen Italieners klang für Sina wie von einem anderen Stern.
Es waren keine Goldbarren in diesem Raum. Nicht einmal eine Goldmünze lag irgendwo verloren herum. Sie standen hier in einem großen, nüchternen Lager voller Aktenordner, Kartons und Papierhaufen. Auf allem ruhte eine Staubschicht. Dieses Papierlager bestand bereits seit etlicher Zeit und wurde augenscheinlich nur selten aufgesucht.
Kein Gold. Kein toter Italiener. Sina war am ernüchternden Ende ihrer Recherchen angelangt. Dieser Tag würde für sie der letzte an der NHA sein. Da war sie sich sicher. Stumm verrichtete sie ihren Hilfsdienst und schleppte die Schulungsunterlagen in den Unterrichtsraum.
Nach dem Kurs packte sie ihre Hefte zusammen, verabschiedete sich von den anderen und ging. Sie umrundete den mit Baumaterial und Steinen beladenen Pritschenwagen, der mal wieder vor der Tür stand, und machte sich mit trüben Gedanken auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Was blieb hier denn sonst noch zu tun?
26
Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, als Sina zu Hause eintraf. Niedergeschlagen und müde, wie sie war, entschloss sie sich dazu, ihren Rechenschaftsbericht bei Gabi auf später zu verschieben. Sie hatte keine Lust zum Telefonieren und auch nicht dazu, sich von ihrer Freundin Unzulänglichkeit als Kundschafterin vorwerfen zu lassen.
Am liebsten wollte Sina jetzt nur eines – nichts tun! Einfach nur dasitzen und ihren Gedanken freien Lauf lassen. Sie brauchte eine Pause und geistigen Abstand zu den Dingen, die sie belasteten.
Hatte Cornelia Probst bei ihren Recherchen auch manchmal so empfunden? Sina fragte sich, ob die Journalistin angesichts schleppender Fortschritte bei ihrer Story ab und zu daran gedacht hatte, die Flinte ins Korn zu werfen. Dass sie Teile ihrer Aufzeichnungen in Gabrieles Sekretär verstaut hatte, sprach zumindest dafür. Vielleicht hatte Cornelia Probst vorgehabt, den Fall für eine Weile ruhen zu lassen. Um einer Bedrohung zu entgehen, sich einige Tage aus der Schusslinie zu bringen oder um sich aus der Sache auszuklinken. Womöglich.
Sina versuchte sich in die Gedankenwelt der Journalistin einzufinden. Versuchte, deren letzten Tage nachvollziehen zu können. Dabei kamen ihr die Eindrücke von ihrem vergeblichen Versuch in den
Sinn, Cornelia Probst in ihrem Haus aufzusuchen. Sina stellte sich das Gebäude vor, den Garten. Dann dachte sie an die Garage, in der das Auto der Journalistin geparkt war. Mit diesem Wagen war Cornelia Probst vermutlich zu ihren Reportagen gefahren. Er war stark verschmutzt gewesen, erinnerte sich Sina. Bei welchem Anlass das Auto wohl so dreckig geworden war? Um zur Akademie zu fahren, hatte Cornelia Probst weder Feldwege noch unbefestigte Seitenstraßen befahren müssen. Soweit Sina wusste, lag auch keine größere Baustelle auf dem Weg dorthin. Woher stammten also die Schlammspritzer?
Sina spürte, dass sie diese Frage mehr beschäftigte, als es eigentlich gerechtfertigt sein sollte. Doch sie fühlte instinktiv, dass sie auf etwas gestoßen war. Sie wusste nur noch nicht genau, was
Weitere Kostenlose Bücher