Beinssen, Jan
der irische Bauer! Hier, inmitten ihrer Mitschüler, war sie sicher. Aber es war eine trügerische Sicherheit, die in absehbarer Zeit vorbei sein würde. Sina sah auf die Uhr. Bis zur ersten Zigarettenpause waren es nur noch wenige Minuten.
Gabriele schloss die Ladentür ab. Bevor sie den ersten Kunden ertragen konnte, brauchte sie etwas Zeit für sich und ihre Gedanken. Diehls Besuch hatte
sie aufgewühlt und einen stärkeren Eindruck hinterlassen, als sie bereit war, sich einzugestehen. Dieser Kommissar verstand es, sie aus der Ruhe zu bringen
– und das gelang nicht vielen. Seine Argumente klangen einleuchtend und sein Mitgefühl wirkte echt. Entweder war er ein begnadeter Ermittler, der die Schwachstellen seiner Verdächtigen perfekt auszuloten verstand, oder aber er hatte ehrlich etwas für sie übrig. Letzter Gedanke verwirrte Gabriele nachhaltig. Es passte einfach nicht in ihr streng auf sich und ihre beruflichen Ziele ausgerichtetes Leben, einem Mann einen Platz darin einzuräumen. Männergeschichten! An diesem Thema hatte Gabriele eigentlich längst das Interesse verloren. Eigentlich …
»… So ist das von Ihnen dem Gast gegenüber gezeigte Zuvorkommen letzten Endes nicht nur Pflicht und Schuld Ihrem Haus gegenüber, sondern erhöht auch Ihre Chancen auf ein gutes Trinkgeld. Und zwar erheblich.« Oliver Kern grinste, aber selbst das wirkte steif und aufgesetzt. »Wir schauen auf die Uhr. Zeit für eine kurze Kaffeepause.«
Bei diesen Worten rutschte Sina das Herz in die Hose. Sie hörte das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Boden. Alle um sie herum standen auf. Sie musste es ihnen gleichtun. Unbedingt! Sie musste sich an die anderen heften, an ihnen kleben, keinen Schritt von ihrer Seite weichen. Das war ihre einzige Chance, um zu überleben. Vielleicht würde sie es so aus der Akademie herausschaffen. Denn
inmitten der anderen konnten sie ihr nichts anhaben. Das würden Sie nicht wagen!
Gabriele ging in ihrem Laden auf und ab, passierte einen Paravent mit Pariser Charme der 20er-Jahre und eine Kommode aus Kaiser Wilhelms Zeiten und machte sich Sorgen um ihr inneres Gleichgewicht. Sie hatte erhebliche Schwierigkeiten damit, ihre Gefühle gegen die reinen Fakten aufzuwiegen. Konnte sie Diehl trauen? Wollte sie Diehl trauen? Hatte sie es überhaupt nötig, ihm zu trauen? Gabriele zermarterte sich das Gehirn, während sie versuchte, den Ablauf der letzten Tage zu rekonstruieren und eine Beziehung zu ihren Erlebnissen auf Usedom herzustellen: das Gold – und die Atombombe. Wo zum Teufel war die Verbindung?
Der einzig naheliegende Schluss war der, dass die Entwicklung und der Bau einer solchen Bombe mit dazugehöriger Raketentechnologie eine Menge Geld kostete. Oder eben Gold als krisensicheres Zahlungsmittel. Sollte das Gold also für die Bombe ausgegeben werden?
Aber das konnte nicht sein, überlegte Gabi. Denn war die Bombe nicht längst pulverisiert und somit unbrauchbar? Warum floss der Goldstrom noch immer, wenn doch der Plan – wie auch immer er aussah – mit dem Scheitern der Peenemünder Aktion längst schiefgegangen war?
Gabriele ließ sich Diehls Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Hatte er nicht von mehreren Bom
ben gesprochen? Von mehreren hochgefährlichen Nachlässen aus dem Nazireich?
Sina nahm all ihren Mut zusammen. Sie stand auf und reihte sich ein in den Strom der Schüler, die hinaus ins Foyer strebten und bereits ungeduldig nach ihren Zigaretten fingerten.
»Eine kleine Durchsage«, meldete sich Kern noch einmal zu Wort. »Nach der Pause übernimmt wie gewohnt wieder mein Mitarbeiter Herr di Lorenzo.«
Sina stockte mitten im Schritt. Sie wollte zunächst ihren Ohren und gleich darauf ihren Augen nicht trauen, als der kleine Italiener in eben diesem Moment durch die Schwenktür kam und in die Runde lächelte. Die anderen beachteten ihn nicht weiter. Wohl aber Sina. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
Di Lorenzo war gesund und munter. Seine Gesichtsfarbe war frisch und gebräunt wie stets. Er wirkte ausgeschlafen und gut aufgelegt. Als er Sinas ungläubigen Blick bemerkte, kam er auf sie zu und sprach sie an: »Buongiorno, Frau Rubov. Wären Sie so nett, mir kurz zu helfen? Wir brauchen einige neue Arbeitsmaterialien.« Er wandte sich rasch ab, sprach auch die Blondine an. »Zu dritt schaffen wir das ganz schnell.«
Sina war wie paralysiert, als sie dem kleinen Italiener folgte. Seite an Seite mit der Blondine. Sina wandelte zwischen den Welten: Realität
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