Beiss mich - Roman
bedauernswerte Geschöpfe gegeben, die fest sitzende Zahnklammern tragen mussten. Mir waren noch einige der Bezeichnungen im Gedächtnis haften geblieben, mit denen diese armen Wesen regelmäßig bedacht wurden, wie etwa Stahlfresse, Klammermaul, Drahtbeißer . Und das waren noch die schmeichelhafteren Ausdrücke gewesen!
»Tut mir leid, ich kann nicht drüber lachen.« Probeweise öffnete ich meinen Mund und ließ die Gelenke knacken. »Sag mal, findest du auch, dass es sich wie ein Luftgewehr anhört?«
»Mach’s noch mal.«
Ich tat ihr den Gefallen. Es klang grässlich. Man konnte sich sogar einbilden, schallgedämpftem Maschinengewehrfeuer zu lauschen.
»Ich finde, es klingt eher wie ein Nussknacker«, meinte Solveig.
»Na toll.«
»Komisch, mir ist das bis jetzt noch nie aufgefallen. Dass es so bei dir knackt, meine ich.«
»Mir auch nicht.«
»Dafür wollte ich dir schon immer mal sagen, dass du wahnsinnig mit den Zähnen knirschst. Vor allen Dingen nachts. Manchmal ist das so laut, dass ich davon wach werde.«
Wozu ich vielleicht noch ergänzend bemerken sollte, dass sich zwischen ihrem und meinem Schlafzimmer ein mindestens acht Meter langer Gang und zwei in aller Regel geschlossene Türen befanden.
Hatte ich zunächst noch die vage Hoffnung gehegt, dass der Kieferorthopäde, bei dem ich mich nach Absolvierung der MRT -Untersuchung einfinden sollte, Rainers ad-hoc-Diagnose bereits nach einem flüchtigen Blick kurz entschlossen über den Haufen werfen würde, so schwante mir mittlerweile, dass mein Ex vielleicht doch richtigliegen könnte. Warum knackten meine Kiefer, sobald ich den Mund aufmachte, wenn nicht deswegen, weil sie im Begriff waren, zu einer ganz, ganz schlimmen Sache zu werden?
Trübselig nahm ich eine Handvoll Lametta und dekorierte es über die unteren Äste. Weihnachten stand vor der Tür, und wie jedes Jahr hatte Solveig darauf bestanden, ihren Kleinmädchenphantasien freien Lauf zu lassen. Sie wollte das volle Programm: Edeltanne bis zur Zimmerdecke, Silberlametta, echte Bienenwachskerzen, mundgeblasene Glaskugeln, winzige, handbemalte Holzfiguren aus dem Erzgebirge. Und das war nur der Baumschmuck.
Zum Weihnachtsprogramm gehörten fernerhin Knabenchöre vom Band, winterliche Duftpotpourris, Dekoschnee auf den Fensterscheiben, Gewürztee, Glühwein und das Abfassen einer erschreckend großen Zahl von Weihnachtskarten, die an Leute zu verschicken waren, von denen wir außer der Adresse so gut wie nichts mehr wussten.
Und natürlich Plätzchen, Plätzchen, Plätzchen, die selbstverständlich samt und sonders selbst gebacken sein mussten. Zimtsterne, Lebkuchen, Florentiner, Gewürzkekse, Spritzgebäck, Mandelmakronen – und das waren noch die am einfachsten herzustellenden Weihnachtsspezereien. Hinzu kamen jährlich wechselnde, doch stets ungeheuer zeitraubende Kreationen nach japanischen, mexikanischen, finnischen oder anderen exotischen Rezepturen. Neulich hatte Solveig sogar irgendwo ein original mongolisches Plätzchenrezept ausgegraben. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass Mongolen überhaupt Plätzchen aßen, geschweige denn Weihnachtsgebäck. In meiner Vorstellung ritten sie auf struppigen Pferden durch die Steppe, immer ein zähes Steak unter dem Sattel und eine Schweinsblase voll Pferdemolke am Gürtel.
»Gib mir noch eins von den braunen Nussdingern hoch«, rief Solveig gebieterisch. Sie stand auf der Leiter und prüfte den Halt des Rauschgoldengels auf der Baumspitze.
»Morgen jammerst du wieder«, warnte ich sie.
»Scheißegal. Morgen ist Heiligabend. Abnehmen tu ich erst nach Silvester.«
Ich warf ihr einen Keks zu, und sie fing ihn zielsicher mitten im Flug, wie ein Frosch, der nach einer Fliege schnappt.
Solveig und ich standen uns sehr nahe. Nach dem Debakel meiner Ehe mit Rainer – Solveig war eine derjenigen, deren Warnungen ich bis zum bitteren Ende beharrlich ignoriert hatte – war sie zur Stelle gewesen, um mich aufzufangen. Sie hatte mich bei sich aufgenommen und mir durch die erste schwere Zeit geholfen. Seitdem waren wir einander, soweit das überhaupt möglich war, in noch engerer Freundschaft verbunden als zuvor.
Solveig war erst ein Jahr vor dem Abitur in unsere Klasse gekommen, weil sie seinerzeit lange krank gewesen war und deshalb das letzte Schuljahr wiederholen musste. Sie hatte bei einem schweren Autounfall zahlreiche Knochenbrüche und innere Verletzungen erlitten und musste danach mehrere Monate im Krankenhaus und in
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