Beiss mich - Roman
lockeren Abständen veranstalteten, bereicherten und von denen auch der eine oder andere männliche Aspirant zu Solveigs Teilzeit-Lover avancierte. Sie war nach ihrem Germanistikstudium auf Umwegen zu einem Job in einer Filmproduktionsfirma gekommen, wo sie als Mädchen für alles angefangen hatte und heute den Posten der Chefdramaturgin innehatte. Anders als ich hatte sie nicht fast zwei Jahre auf ein abgebrochenes Studium verplempert und hatte daher beruflich eher als ich Fuß fassen können. Sie verdiente ganz gut, und ihre Großzügigkeit war legendär, womit ich nicht nur die vielen kostspieligen Feiern meine, die sie veranstaltete, sondern vor allem die Ausgaben, die sie für mich bestritt. Sie beglich den größten Teil der Miete, kaufte für uns beide sündhaft teure Delikatessen und war auch nicht davon abzubringen, mich gelegentlich einzukleiden. In ganz schlimmen Notzeiten hatte sie sogar meine Versicherungen bezahlt.
»Sobald ich alt und krank bin, kannst du dich ja revanchieren«, pflegte sie zu sagen, wenn ich mal wieder vor lauter Abhängigkeitsfrust die Wände hochging.
So, wie ich die Lage momentan einschätzte, konnte es durchaus so lange dauern, bis ich Solveig ihre Großherzigkeit vergelten konnte; bei meinem neuesten Versuch, Rainer wenigstens telefonisch doch noch kurzfristig vor Weihnachten zu einer Finanzspritze zu überreden, hatte sich nur der Anrufbeantworter gemeldet, der mir mit Rainers fröhlicher Stimme mitgeteilt hatte, dass Herr Doktor von Stratmann und Yvonne Irgendwer (vermutlich Miss Porsche Boxter, die Einmeterachtzigfrau) zur Zeit urlaubsbedingt nicht anwesend seien, dass aber in der Zwischenzeit gern gemailt werden könne. Ich verkniff mir die blutrünstige Mail, die ich ihm im ersten Moment schicken wollte, und beschloss, die Angelegenheit auf zivilisierte Art zu regeln. Da er seiner Meinung nach neuerdings mein Zahnarzt war, würde ich den rückständigen Unterhalt einfach von meinem Eigenanteil bei der Kostenabrechnung abziehen. So einfach war das.
Ich war so erbaut von dieser genialen Idee, dass mein vorweihnachtlicher Frust wegen meines derzeitigen pekuniären Engpasses von wohliger Festtagsstimmung abgelöst wurde.
Ich machte mich daran, die wenigen Geschenke, die ich besorgt hatte, hübsch zu verpacken und mich emotional auf Weihnachten einzustimmen. Schon deshalb, um für den bevorstehenden Besuch bei meiner Familie besser gerüstet zu sein. Heiligabend zu Hause, das war ein ehernes Gesetz. Der erste Feiertag gehörte Solveig, der zweite mir. Doch der vierundzwanzigste Dezember war von jeher für meine Familie reserviert. An diesem Tag kamen alle bei meinen Eltern zusammen, außer mir noch mein Bruder mitsamt Freundin und meine Großeltern väterlicherseits. Dieser Brauch entsprang nicht etwa überkommenen Traditionen – dergleichen hätten meine Eltern als alte APO -Freaks entrüstet von sich gewiesen –, sondern einfach einer in vielen Jahren eingeschliffenen Angewohnheit. Als mein Bruder und ich noch klein gewesen waren, hatten diese Heiligabendtreffen bei meinen Großeltern stattgefunden. Jetzt waren meine Eltern dran, das Fest für alle auszurichten. Sie nahmen es sogar Jahr für Jahr auf sich, einen Baum aufzustellen – nur für Oma und Opa, wie sie stets betonten – und Geschenke einzupacken. Obwohl Weihnachten eigentlich eine ekelhaft bürgerlich-konventionelle Masche war (O-Ton Mama), gab es regelmäßig Gans mit Rotkohl und Klößen und hinterher Eis.
Meine Eltern waren vor Urzeiten richtige Anarchos gewesen, originale Achtundsechziger, wie ich aus ihren schwärmerischen Erzählungen wusste. Ein paar Schnappschüsse, die mindestens dreißig Jahre alt sein mussten, sprachen Bände. Sie zeigten meine Eltern in wilder Flucht vor einem gepanzerten Polizeifahrzeug, das eine Fontäne aus Tränengas über sie sprühte. Die beiden hatten sich bei ihrem Soziologiestudium kennen- und lieben gelernt, aber zur Heirat war es erst zehn Jahre später gekommen, und das auch nur aus Steuergründen, wie sie nicht müde wurden zu betonen, nicht etwa aus der spießigen Erwägung heraus, dass mein Bruder, der damals gerade unterwegs war, verheiratete Eltern haben sollte.
Nach der Geburt von Lucas folgten wechselhafte Jahre. Meine Eltern schmissen ihr Studium – irgendwie schien dergleichen in der Familie zu liegen –, kleideten sich von Kopf bis Fuß orange und zogen nach Indien, wo sie die folgenden drei Jahre in einem Ashram meditierten. Nach einer Weile beschloss
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