Beiss mich - Roman
Rehakliniken verbringen. Bis sie in unsere Klasse kam, hatte ich sie nur vom Sehen gekannt, doch nach dem spektakulären Unfall wusste jedermann an unserer Schule, wie es um sie stand. Bei dem Unfall waren ihre Eltern ums Leben gekommen. Beide waren unter vierzig gewesen.
Ich erinnere mich noch genau daran, wie Solveig eines Morgens blass und in sich gekehrt zum ersten Mal in unsere Klasse gekommen war. Nie würde ich dieses leichte Humpeln vergessen, den Anblick der roten Narben in ihrem Gesicht, den gequälten Ausdruck in ihren Augen. In den ersten Wochen hatte sie kaum etwas gesagt. Meist schaute sie stumm in die Ferne, als hörte sie Stimmen in ihrem Inneren zu.
Jung und unbekümmert wie wir damals alle waren, begriffen viele von uns wohl zum ersten Mal richtig, dass das Leben nicht nur aus aktuellen Schminktipps, angesagten Klamotten und tollen Partys bestand, sondern dass es auch eine dunkle, gnadenlos böse Seite gab und das Schicksal vor niemandem Halt machte.
Heute waren die Narben nach zwei gelungenen kosmetischen Operationen so gut wie unsichtbar, und das Hinken war dank eiserner, über Jahre hinweg betriebener Krankengymnastik völlig verschwunden. An den Unfall erinnerten nur noch ein paar Metallstäbe in Solveigs Hüfte und eine gewisse Wetterfühligkeit im rechten Knie. Doch da waren immer noch die Wunden, die niemand sah. Sie hatte sehr an ihren Eltern gehangen.
Zum Glück war die finanzielle Seite kein Problem gewesen. Der Verkauf ihres Elternhauses hatte aus ihr eine ziemlich wohlhabende Achtzehnjährige gemacht. Sie mietete sich eine geräumige Wohnung, wiederholte das letzte Schuljahr und bestand mit mir zusammen das Abitur. Nach den ersten schweren Monaten gewann allmählich ihr optimistisches, ausgeglichenes Naturell wieder die Oberhand, und sie wurde zunehmend umgänglicher. Irgendwann lud ich sie auf eine Party ein, und sie kam. Ich gab mir besondere Mühe, auf sie einzugehen, ohne ihr zu nahezutreten, und anscheinend hatte ich es richtig gemacht, denn bald darauf waren wir die besten Freundinnen, was vielleicht daran lag, dass wir sowohl vom Wesen als auch von unserem Äußeren her so völlig verschieden waren – bekanntlich ziehen Gegensätze einander an. Sie war fast zwanzig Zentimeter größer als ich und entsprechend schwerer. Obwohl sie ständig über ihr angebliches Übergewicht jammerte, war ihre Figur perfekt. Sie war gebaut wie Marilyn zu ihren besten Zeiten, vollbusig, mit runden Hüften und üppigem Hintern. Auch sonst sah sie der Filmgöttin verblüffend ähnlich, mit ihrem hübschen herzförmigen Gesicht und den sinnlichen Lippen. Hätte sie ihr brünettes Haar blondiert, wäre die Illusion perfekt gewesen.
»Woran denkst du?«, fragte sie mit vollen Backen.
»Daran, dass du wie die Monroe aussiehst.«
Sie verschluckte sich an dem mongolischen Keks. »Willst du mich verarschen?«
Ich war entrüstet. »Nein, das ist meine ehrliche Meinung.«
Sie wurde rot. »Echt?«
Ich nickte nachdrücklich, und sie stieg seufzend von der Leiter. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?«
»Schon hundertmal. Mindestens. Ich liebe dich übrigens auch.«
»Das sagst du bloß, weil du bei mir so preiswert zur Untermiete wohnen darfst.«
»Nein, weil ich verrückt nach deinen mongolischen Nussplätzchen bin.«
Sie grinste übermütig, doch dann trat auf einmal ein Ausdruck auf ihr Gesicht, den ich kannte. »Ach, Luzie«, seufzte sie.
»Warte, sag es nicht. Lass mich raten.«
Doch sie kam mir zuvor. »Ich glaube, ich habe jemanden kennengelernt.«
Sie lernte ungefähr einmal pro Monat jemanden kennen und lieben. Das war nichts Neues.
»Das ist nichts Neues«, meinte ich. »Kenn ich ihn?«
Sie schüttelte verträumt den Kopf. »Ich habe ihn erst einmal getroffen.«
»Wo? Wann? Hast du dich mit ihm verabredet? Wart ihr essen? Hier zu Hause war er aber noch nicht, oder?«
Solveig lachte. »Ich habe ihn bei Freddy gesehen, weiter nichts. Mehr war nicht.«
»Du meinst, du hast ihn bloß gesehen? Gesehen im Sinne von einmal hingeguckt und sonst gar nichts?«
»Einmal ist immer das erste Mal. Ich will ihn wiedersehen.«
»Weiß er das?«
»Vielleicht. Er hat gelächelt.«
»Wieso? Hast du ihm einen Witz erzählt?«
Sie schnaubte und schob sich noch einen Keks in den Mund.
»Sekunde«, sagte ich. »Du hast ihn gesehen. Er hat gelächelt. Okay, so weit ist alles klar. Was ich nicht verstehe, ist Folgendes: Freddy ist nicht irgendwer. Freddy ist ein Feinkostladen, in dem
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