Beiss mich - Roman
da?«
Er griff unters Bett, zog seine Reisetasche hervor und holte eine Flasche Jack Daniel’s heraus. »Hier, das ist alles, was ich dir momentan an Rauschmitteln zur Verfügung stellen kann. Den Rest brauch ich selber.«
»So schlimm?«
»Schlimmer als schlimm.«
»Lag es an ihr oder an dir?«
»Sie hat gesagt, an mir.«
Ich dachte an meine missratene Ehe und die Gründe dafür.
»Du hast sie betrogen.«
»Unsinn. Es gibt keinen, der so treu ist wie ich.«
»Dann hast du ihr vielleicht nicht genug im Haushalt geholfen.«
Er war verdutzt. »Wie kommst du denn darauf? Wir haben eine Putzfrau, die kommt zwei Mal die Woche. Bea hat nicht mehr gemacht als ich. Und dabei arbeitet sie nur halbtags.« Er schwieg und starrte mit glasigen Augen an die Wand. Da, wo früher seine Fußballposter geklebt hatten, befanden sich jetzt Mamas selbst gemalte Mantras.
»Das war mal mein Zimmer«, meinte Lucas anklagend.
»Ich weiß. In meinem Zimmer färbt sie neuerdings Wolle.«
»Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, wir sind adoptiert. Wir haben in Wahrheit ganz andere Eltern.«
»Andere?«
»Na, richtige halt. Solche, die morgens den Frühstückstisch decken und zu Weihnachten nicht kiffen.«
»Kommt das mit Bea und dir wieder in Ordnung?«, fragte ich besorgt.
»Keine Ahnung. Sie hat gesagt, sie kann nicht mit mir.«
»Nicht was mit dir?«
Er gab keine Antwort.
»Was kann sie nicht mit dir? Leben?«
Er starrte mich an. »Sie hat mir erzählt, dass sie mit mir noch nie einen Orgasmus hatte. Scheiße, habe ich darauf zu ihr gesagt, du hast andauernd einen Orgasmus, was soll also das Geblöke, und da sagt sie, dass sie mir immer nur was vorspielt.«
»Du lieber Himmel«, sagte ich in ehrlichem Mitgefühl.
Er fing an zu weinen.
»Lucas, das ist total normal!«
»Ich weiß«, schluchzte er. »Auch Männer dürfen weinen.«
»Nein, ich meine, dass Frauen nur so tun als ob. Das tun alle. Oder sagen wir, fast alle. Achtzig Prozent, glaube ich.«
»Du auch?«
»Eh … ab und zu – ja.« Ich merkte, wie ich rot anlief. Meines Wissens hatte ich noch nie mit meinem Bruder derart intime Gespräche geführt. Mit dreizehn hatte ich einen Nervenzusammenbruch erlitten, weil er mich einmal nackt im Badezimmer gesehen hatte. Unsere Eltern, die sich uns völlig unbefangen in allen Stadien der Nichtbekleidung zu präsentieren pflegten, konnten es nicht fassen, wie schamhaft ihre Kinder waren. Meine Mutter hatte mich seit meinem fünften Lebensjahr nicht mehr nackt gesehen. Je öfter ich sie hüllenlos im Haus oder im Sommer auch im Garten hatte umhermarschieren sehen, desto strikter hatte ich selbst darauf geachtet, gewisse Körperteile von mir immer sorgsam bedeckt zu halten. Ich hatte mich standhaft geweigert, mir auf dem FKK -Campingplatz, wo der alljährliche Familienurlaub stattfand, auch nur ein einziges Kleidungsstück auszuziehen. Schließlich sah man sich genötigt, mich die FFK -Ferien über bei Oma und Opa zu lassen.
Mit Lucas hatte es ähnliche Probleme gegeben. Meine nudistisch veranlagten Eltern hatten zwei kleine Puritaner großgezogen.
»Weiß Rainer auch davon? Ich meine, dass du … hm, nur so getan hast als ob?«
Ich dachte nach. Bei Rainer hatte ich nur selten so getan als ob. Doch das hätte meinen Bruder noch mehr deprimiert, folglich bog ich die Wahrheit etwas zurecht. »Klar wusste er es. Er ist Mediziner. Er muss es wissen. So was wissen Ärzte einfach.«
Er paffte an seinem Joint, dann gab er ihn mir zum Fertigrauchen. »Hast du es ihm gesagt?«
»Nein. Aber vielleicht sollte ich es gelegentlich tun. Nur für alle Fälle.«
»Das wird ihn vernichten.«
»Hoffentlich.«
»So wie Bea mich vernichtet hat.«
»Quatsch. Bei der nächsten Beziehung weißt du gleich Bescheid. Dann lässt du dir kein X mehr für ein U vormachen.«
»Warum soll ich überhaupt mit einer Frau schlafen, wenn ich schon vorher weiß, dass sie zu achtzig Prozent ihren Höhepunkt nur vorspielt?«
Diese Frage, so erkannte ich, verdeutlichte ein tief sitzendes, ja geradezu existenzielles Dilemma der Geschlechter. Warum schliefen Männer mit Frauen, obwohl sie wussten, dass es den Frauen zu achtzig Prozent nichts brachte? Was war der entscheidende Antrieb? Fortpflanzung? Nein, bestimmt nicht. Für eine Befruchtung musste im weltweiten Durchschnitt ungefähr fünfhundert Mal eine Beiwohnung stattfinden. Das war praktisch wie Lotto.
Liebe? Als Grund noch unwahrscheinlicher.
Der eigentliche Grund lag natürlich auf der
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