Beiss mich - Roman
Untersteht euch , sagten seine vom Kiffen rot unterlaufenen Augen drohend.
Meine Mutter ließ sich nicht ablenken. »Es lag in der Kiste mit den Tapetenmustern. Ganz unten drin. Ich wollte schon alles zum Altpapier stellen, wer braucht schon dreißig Jahre alte Tapetenmuster. Doch dann hatte ich diese Eingebung, noch mal alles durchzusehen, und da war es.«
»Im Stift wollen sie den Speisesaal jetzt auch neu tapezieren«, sagte Oma. »Mathilde Schröder hat gesagt, dass wir beim Tapetenabreißen helfen dürfen.«
»Mathilde Schröder erzählt viel, wenn der Tag lang ist«, sagte Opa. Er blickte ernst in die Runde. »Die Schröder hat Pflegestufe drei. Das ist kurz vorm Exitus.«
»Ich habe die Dokumente von Lucia wiedergefunden!«, rief meine Mutter mit funkelnden Augen.
Meine Großmutter blinzelte. »Die kenne ich, dieses Männer mordende Weibsstück.«
Meine Mutter schaute leicht befremdet drein. »Mutter, ich bitte dich! Wir reden hier von deiner Tante Lucia. Sie war Nonne, falls du es vergessen haben solltest.«
»Und du bist ein vorlautes Balg, das warst du schon früher. Genau deswegen habe ich dir jeden Tag den Hintern versohlt, und das werde ich bestimmt nicht vergessen.«
»Ich auch nicht«, meinte meine Mutter eingeschnappt. Sie goss sich Sherry nach und kippte ihn mit einem Schluck hinunter.
»Die Lucia, das ist eine ganz Wilde«, erzählte Oma unbefangen. »Ab und zu kommt sie zu Besuch, aber dann sind wir Kinder schon im Bett, zum Glück, sagt Mama. Tante Lucia ist ganz schwarz, von oben bis unten.«
»Ja, natürlich«, nickte Mutter. »Sie trug ja Nonnenhabit.«
»Sie kommt in unser Kinderzimmer und gibt uns einen Gutenachtkuss«, sagte Oma leiernd.
Meine Mutter wusste sich vor Ehrfurcht kaum zu bremsen. »So nahe stand sie euch?«
Dann meinte sie bedauernd zu Opa: »Schade, dass man bei ihr nie weiß, was Wahrheit und was Phantasie ist. Wenn ihr Erinnerungsvermögen doch noch funktionieren würde! Was würde ich darum geben, alles aus erster Hand über Lucia zu erfahren!«
Oma spitzte die Lippen. »Gute Nacht, Tante Lucia.« Dann meinte sie erklärend zu uns: »Sie muss wieder gehen, denn die Soldaten sind krank und warten auf sie.«
»Genau«, sagte meine Mutter. »Lucia hat ja im Lazarett gearbeitet. Sie hat sich für die armen Verwundeten aufgeopfert. Drei Jahre hat sie in Frankreich verwundete Soldaten gepflegt. Tag und Nacht hat die Ärmste sich aufgeopfert. Ich habe es schwarz auf weiß.«
»Am Tage schläft sie«, nuschelte Oma in ihren Sherry. »Nur nachts geht sie auf die Pirsch, im Schutze der Dunkelheit. Sie sammelt die Seelen der Verdammten, sagt Mama.«
Omas Mutter war Urgroßtante Lucias ältere Schwester gewesen.
Meine Mutter leuchtete förmlich vor Ergriffenheit. »Sie war dazu geboren, Seelen zu retten, nicht wahr? Sie hatte heilende Hände!«
»Unsinn«, schnarrte Oma. »Sie war ein Früchtchen.«
»Wie kannst du das sagen!«, empörte sich meine Mutter.
Oma wandte sich an Opa. »Wer ist diese Frau?«, fragte sie, während sie auf meine Mutter zeigte. »Müsste ich sie kennen?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Lieber Himmel, das ist ja wirklich schlimm. Da kann ich nur hoffen, dass mir das nicht mal passiert. Dann lieber gleich abtreten, ohne großes Brimborium. Am besten ein Schlaganfall, im Schlaf.«
»Die Ruth Abel hatte einen Schlaganfall«, warf Oma ein. »Aber nicht im Schlaf, sondern im Fernsehraum. In der Werbepause von Bauer sucht Frau .«
»Gott«, sagte meine Mutter angewidert.
»Es war beim Musikantenstadl «, sagte Opa.
Mein Vater hob den Kopf. »Rieche ich da die Gans?«
»Ich rieche sie auf jeden Fall«, sagte Oma und schnüffelte missbilligend in Richtung der Räucherstäbchen. »Sie ist im Begriff, völlig zu verkohlen, wenn ihr mich fragt.«
Meine Mutter schaute auf die Uhr und stand auf. »Zwanzig Minuten dauert’s noch.«
Oma blickte sinnend auf die schlanke, naturbelassene Nordmanntanne, die in der Zimmerecke stand. »Der Baum da erinnert mich irgendwie an Weihnachten.«
»Alzheimer«, sagte Opa entschuldigend.
»Kenn ich nicht«, meinte Oma. Sie hielt meiner Mutter ihr leeres Glas hin. »Bis zum Essen schaff ich noch einen.«
Nach dem Essen zogen mein Bruder und ich uns in seinem alten Zimmer noch gemeinsam einen Joint rein, anschließend fand die Bescherung statt. Für meine Eltern hatte ich ein praktisches Gemeinschaftsgeschenk besorgt, eine Espressomaschine mit Zubehörteilen für die Bereitung von Cappuccino.
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