Beiss mich - Roman
man, dass ein Ortswechsel nicht schaden könne, und da etwa um dieselbe Zeit rüde Betrugsvorwürfe gegen ihren wallebärtigen Guru laut wurden, ergriffen sie die Gelegenheit, wieder zurück in heimatliche Gefilde überzusiedeln und sich der profanen Realisierung eines Reihenhausprojekts zuzuwenden. Damals war ich bereits im Anmarsch, und bis auf das Zustandekommen meines Vornamens ist der Rest meiner Familiengeschichte relativ uninteressant. Meine Mutter widmete sich fortan hingebungsvoll allerlei spiritistischen Hobbys. Sie wurde Mitglied eines Hexenzirkels namens Die Erdweiber . In der Zeit, die sie nicht mit Beschwörungen, dem Schlagen der Laute oder dem Werfen von Runensteinen zubrachte, kochte sie naturbelassene Gerichte von undefinierbarem Geschmack und Kaumuskel fördernder Konsistenz für mich und meinen Bruder (mein Vater weigerte sich, diesen Körnerfraß zu essen), und gelegentlich spielte sie sogar mit Lucas und mir. Abgesehen davon, dass ich die klumpige Polenta, die sie mir auftischte, immer bis auf den letzten Bissen vertilgen musste, verlief meine Jugend ohne nennenswerte Beeinträchtigungen. Mein Bruder hatte BWL studiert – bis zum Schluss – und anschließend bei einer erstklassigen Privatbank für sechzigtausend im Jahr angefangen. Er war ein tougher Jungmanager mit Armanikrawatte und Guccitretern, wählte konservativ und fuhr einen geleasten BMW . Er investierte seine Ersparnisse an der Börse, denn seine Freundin und er wollten demnächst im Westend eine Eigentumswohnung erwerben. Da der Quadratmeter Wohnraum dort nicht unter fünftausend zu haben war, lautete seine diesbezügliche Devise: Bullish, Baby, bullish – womit wohl alles gesagt wäre. Wenn je ein Apfel weit vom Stamm gefallen war, dann mein Bruder.
Was mich betraf, konnte man das nicht gerade behaupten. Mit Esoterik hatte ich zwar nichts im Sinn – es gab kaum etwas, das mich weniger interessiert hätte –, doch dafür war ich genau wie meine Eltern ganz groß im Kleine-Brötchen-Backen. Unterm Strich war ich wohl noch erfolgloser als die zwei, zumindest in beruflicher Hinsicht.
Meine Mutter hatte in meiner Kindheit zeitweilig ganze Wagenladungen abenteuerlicher selbst getöpferter Geschirre auf Flohmärkten verkauft, worin sich jedoch ihr Karrierestreben erschöpft hatte. Mein Vater war immerhin so weitsichtig gewesen, nach seiner Rückkehr aus dem Ashram einen Taxischein zu machen. Nun führte er ein kleines Unternehmen mit drei Fahrzeugen, von denen er eines selbst steuerte. Die beiden anderen Wagen wurden in Wechselschichten von Teilzeitkräften gefahren, um Abgaben zu sparen.
Solange ich denken kann, wurde bei uns zu Hause immer an allen Ecken und Enden geknausert, weil das Geld hinten und vorn nicht reichte, doch irgendwie mogelten wir uns durch. Daran hatte sich seither nichts geändert. Das Haus war mittlerweile abbezahlt, doch mein Vater fuhr immer noch Taxi. Meine Mutter warf immer noch Runen und kochte vegetarischen Körnerpudding. Ach ja, nicht zu vergessen: Geld war immer noch keines da. Nicht ein Cent zu viel.
Und an Weihnachten kam immer noch die ganze Familie zusammen.
*
Meine Mutter hatte mit der Zubereitung der Gans gewartet, bis ich eintraf. Sie hatte mich wie immer gebeten, früher zu kommen, um ihr zur Hand zu gehen.
In der Küche reichte sie mir naserümpfend die schlaffe, kalte Gänseleiche. »Da. Ist das nicht echt widerlich?«
»Warum machst du dann jedes Jahr zu Weihnachten Gans?«
»Frag mich was Leichteres. Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber Polenta machen, doch sag das mal deinem Vater. Es muss ja unbedingt tierisches Fett sein.«
Während sie sich mit Hingabe dem Kleinschneiden des Rotkohls widmete – Gemüse fiel eher in ihr Ressort –, schleppte ich die Gans ins Bad, legte sie in die Wanne und brauste sie kalt ab. Dann tastete ich mit geschlossenen Augen im glitschigen Inneren des toten Federviehs herum. Ich wurde fündig und zog den Beutel mit dem Scheußlichsten hervor, das die Natur gänsemäßig zu bieten hat: Innereien. Ich schüttete sie ins Klo.
Die Gans fühlte sich nackt und borstig an, als ich sie mit Küchenkrepp trockentupfte.
»Den Rest machst du aber«, sagte ich zu meiner Mutter.
Sie war mit dem Rotkohl fertig und weichte Semmeln für die Klöße ein.
»Lucas ist auch schon da«, sagte sie.
»Wo?«
»Oben in seinem Zimmer.«
»Du meinst, in deinem Töpferzimmer?«
»Er hat die Drehscheibe und die Tonblöcke in die Garage geräumt und sein altes Bett vom
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