Beiss mich - Roman
Hand, wie mir sofort klar wurde.
»Um selber deinen Spaß zu haben«, schlug ich vor.
Woraufhin Lucas behauptete, impotent zu sein. Beate hatte derart niederschmetternd reinen Tisch gemacht, dass er seitdem nicht mal mehr eine Morgenlatte bekam. Sie hatte sogar in seinem Beisein am Frühstückstisch die berühmte Szene aus Harry und Sally nachgespielt, einfach zum Spaß, nur um Lucas so richtig den Rest zu geben.
»Das war echt gemein«, bedauerte ich ihn und überlegte dabei, dass ich dasselbe bei meinem nächsten Treffen mit Rainer machen könnte, und zwar in der Praxis, vorzugsweise zu einer Zeit, in der Hochbetrieb herrschte.
Oooh, jaaa, duuu!, et cetera et cetera.
Ich produzierte stinkende Wolken von Rauch und malte mir weitere Einzelheiten aus. Alle Sonjas und Tanjas und Anjas und Katjas würden fassungslos in Raum eins zusammenströmen, und wenn alle versammelt waren und Rainer völlig erstarrt neben mir stand, würde ich die Szene in oscarreifer Darbietung zu Ende spielen und dann gelassen sagen: »Tja, Mädels, so war es von Anfang an mit ihm und mir. So ist das eben bei den Kerlen. Je größer das Ego, desto kleiner der Ihr-wisst-schon .«
Unten klingelte es an der Haustür. Ich zog ein letztes Mal an dem Joint.
»Oma und Opa sind da«, sagte ich aufmunternd.
»Am liebsten wäre ich tot! Ausgerechnet zu Weihnachten!« Wieder begann seine Unterlippe zu zittern. Er schraubte die Whiskeyflasche auf und nahm einen Schluck. »Und an Silvester darf ich gar nicht denken! Wir wollten so eine tolle Party veranstalten! Luzie, wir hatten dreißig Leute eingeladen!«
»Komm doch zu mir und Solveig«, schlug ich spontan vor. »Wir haben auch mindestens dreißig Leute da.« Ich nahm ihm die Flasche weg, warf den aufgerauchten Joint ins Klo und ging mit Lucas nach unten.
*
Meine Großeltern mütterlicherseits – die Eltern meines Vaters waren schon seit vielen Jahren tot – näherten sich beide einem runden Geburtstag. Opa wurde in zwei, Oma in drei Wochen neunzig, ein Anlass, zu dem Oma sich eine rauschende Festivität wünschte. Sie wollte hundertfünfzig Leute einladen. Opa erzählte uns sotto voce , dass von den hundertfünfzig, wenn es hochkam, vielleicht noch zwanzig lebten, und auch die durften nur mitfeiern, wenn die Heimleitung zustimmte. Damit sah es allerdings gut aus. Wenn nichts dazwischenkam, konnte die Party zum Neunzigsten demnächst wie geplant steigen, im Gemeinschaftsraum des Altenstifts. Die Heimleitung hatte sogar ihre Bereitschaft signalisiert, einen Alleinunterhalter mit Orgel zu engagieren, und die Köchin hatte zugesagt, außer der Reihe Schnittchen zu richten. Über den Sekt wurde noch verhandelt, aber vielleicht könnte man da noch was reißen, meinte Opa.
Meine Mutter hatte im Wohnzimmer Räucherstäbchen angezündet, eine neue Sorte, die ich noch nicht kannte und die einen betäubenden Geruch nach Vanille verbreitete.
»Hier riecht es angebrannt«, sagte Opa.
Oma schnüffelte besorgt. »Das wird doch nicht die Gans sein!«
Sie saßen nebeneinander auf der Couch, in denselben Festtagsklamotten, die sie schon vor einem halben Jahrhundert zu hohen Feiertagen getragen hatten. Beide hatten das obligatorische Glas Sherry vor sich und gaben sich wechselnde Stichworte für ihre unausgesetzten Dispute. Meine Großmutter litt zunehmend unter Ausfällen des Kurzzeitgedächtnisses. Ihr Langzeitgedächtnis hatte sich schon vor Jahren verabschiedet. Opa referierte in seiner gewohnt kargen Art über die letzten medizinischen Befunde, soweit Oma ihn zu Wort kommen ließ. Ihr Redebedürfnis hatte durch ihren fortschreitenden Gedächtnisverlust kaum gelitten.
»Letzte Woche ist Hilde Bergmeier gestorben«, erzählte sie.
»Das war schon letztes Jahr«, berichtigte Opa. Zu mir sagte er: »Habe ich dir schon erzählt, dass sie Alzheimer hat?«
Oma widersprach. »Ich habe im ganzen Stift noch nie jemanden getroffen, der Alzheimer heißt. Höchstens Hergetheimer. Wie der Franz Hergetheimer.«
»Fritz. Er heißt Fritz.«
»Der ist doch schon längst tot.«
»Nein, das war der Fritz Herkströter.« An meinen Vater gewandt erklärte mein Großvater: »Der ist schon letzten April gestorben. Sie kann es nicht mehr auseinanderhalten.«
Meine Mutter mischte sich ein. »Stellt euch vor, was ich neulich beim Ausmisten auf dem Dachboden gefunden habe!«
»Der Junge sieht schlecht aus«, meinte Oma mit Blick auf Lucas.
»Mir geht’s aber gut.« Lucas warf meinen Eltern einen warnenden Blick zu.
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