Beiss mich - Roman
Dachboden geholt.«
»Wieso?«
»Er wohnt jetzt wieder hier. Zumindest vorläufig, bis er was anderes hat.«
Ich war erstaunt. »Und was ist mit Beate?«
Meine Mutter zuckte die Achseln. »Die beiden haben sich gestern getrennt. Sie hat ihn rausgeworfen.«
Mein Vater kam in die Küche und schnupperte. »Riech ich hier schon was?«
Ich deutete auf die Gans, die noch eingepinselt und verschnürt werden musste. »Eiskalt.«
»Nein, ich mein was anderes.« Er machte das Schränkchen über der Anrichte auf, holte eine Schachtel hervor, klappte sie auf und nahm den größten Joint heraus, den ich je gesehen hatte.
»Nicht vor dem Essen«, sagte meine Mutter.
»Ach, nachher kommen die Alten, was glaubst du, was die sagen, wenn wir uns das hier zum Nachtisch reinziehen?«
Mein Vater griff zum Feuerzeug, und bald erfüllten wabernde Marihuanadämpfe die Küche. Er zog ein paarmal fachmännisch durch die hohle Hand, dann reichte er mir das übel qualmende Kraut. »Probier mal.«
Ich fand, dass es nichts schaden könne. Schließlich war Weihnachten, und ein bisschen Entspannung konnte ich wahrhaftig vertragen. Ich nahm einen kräftigen Zug, dann noch einen, und inhalierte bis an die Grenze meiner Lungenkapazität.
»Das ist mein Mädchen«, lobte mein Vater mich. Für zweiundsechzig war er gut in Schuss. Bis auf eine winzige kahle Stelle am Hinterkopf hatte er noch alle Haare, und auch seine Zähne waren fast vollzählig vorhanden.
Meine Mutter konfiszierte den Stängel, nicht, um ihn auszudrücken, sondern um sich selbst ebenfalls eine Dröhnung zu verpassen und nebenher die Gans vorzubereiten.
»Das ist wirklich erstklassiger Stoff«, befand sie.
Mein Bruder erschien in der Küche. Er trug abgewetzte Jeans, Cowboystiefel und ein kariertes, lose über der Hose hängendes Flanellhemd. Ein mindestens drei Tage alter Stoppelbart überschattete sein Gesicht. Wenn er sich selbst je unähnlich gesehen hatte, dann an diesem Heiligabend. Er war Äonen von Gucci und Armani entfernt und sah auch nicht so aus, als würde er einen Sportwagen fahren.
Er küsste mich zur Begrüßung auf die Wange, dann entriss er meiner Mutter wortlos den Joint und verschwand damit nach oben.
»Den Ärmsten hat’s ganz schön gebeutelt«, meinte meine Mutter.
»Besser jetzt als später«, erklärte ich diplomatisch.
»Beate war echt okay«, meinte mein Vater.
»Das Einzige, was an ihr okay war, waren ihre großen Titten«, behauptete meine Mutter. Dann wandte sie sich zu mir um und sagte ebenso triumphierend wie zusammenhanglos: »Rat mal, was ich neulich beim Ausmisten auf dem Dachboden gefunden habe!« Bevor ich die Raterunde eröffnen konnte, platzte sie heraus: »Die Dokumente von Lucia!«
»Meine alten Zeugnisse? Wirf sie weg, sie waren mies.«
»Nein, ich meine doch die andere Lucia.«
»Die mit dem Blut im Mund«, erläuterte mein Vater.
»Sie wäre wahrscheinlich schon längst seliggesprochen worden, wenn du die Mappe nicht ganz unten in die Kiste mit den Tapetenmustern gepackt hättest«, fuhr meine Mutter ihn an.
Ich lachte, was mir einen erbitterten Blick von ihr eintrug. »Ich sehe nicht, was daran komisch sein soll«, meinte sie spitz.
»Sie will diesen alten Scheiß echt an den Vatikan schicken«, erklärte mein Vater.
»Mama, du warst seit mindestens fünfzig Jahren nicht in der Kirche!«
»Und außerdem sind wir ausgetreten«, hob mein Vater hervor.
»Was hat das denn damit zu tun? Es geht dabei doch wohl ums Prinzip, oder? Es sind schon ganz andere Konsorten seliggesprochen worden, die hatten nicht halb so viel drauf wie unsere Lucia.« Zu mir sagte sie: »Ich habe Fotokopien. Erinnere mich unbedingt, dass ich dir später ein Exemplar mitgebe.«
Sie schob die inzwischen bearbeitete Gans in den Ofen und stellte eine Tasse mit Wasser dazu. Der Rotkohl wartete fertig geschnitten und gewürzt im Topf, und auch der Teig für die Klöße ruhte in einer abgedeckten Schüssel. Zum Nachtisch würde es Walnusseis geben, und zwar dieselbe Sorte wie immer. Eis machte keine Extraarbeit und wurde immer sehr gern gegessen, wie meine Mutter alle Jahre wieder erklärte.
4. Kapitel
I ch ging die Wendeltreppe nach oben, wo mein Bruder sein altes Kinderzimmer wieder bezogen hatte. Er war neunundzwanzig und sah aus wie neunzehn. Das kindlich-frische Aussehen liegt unserer Familie anscheinend im Blut.
Ich erspähte ihn hinter einem Nebel von Qualm. Er lag auf dem Bett und sah ziemlich stoned aus.
»Ist für mich noch was
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