Beiss mich - Roman
hier!«
Meine Nüstern blähten sich unwillkürlich, als ich plötzlich seine Ausdünstung auffing. Es war gerade so, als könnte ich seine Gefühle riechen, diese Mischung aus leisem Unbehagen, Gewissensbissen und – ja, leiser Schadenfreude. Ich erkannte unvermittelt, dass hier mehr dahintersteckte als schlichte Vergesslichkeit. Das Problem der Unterhaltsrückstände war weit komplexer, es setzte sich aus mehreren Aspekten zusammen. Ich spürte seine Empfindungen fast so deutlich, als wären es die meinen: Rache, Machtstreben, Triumph … Sehnsucht?
Wieder sah ich das schwache Aufzucken der kleinen Ader in der Nähe seiner Kehle, und mein Durst wurde plötzlich übermächtig.
»Ich brauche sofort einen Schluck Wasser«, sagte ich mühsam.
Er lief zum Waschbecken und füllte dort am Hahn einen der Plastikbecher. Ich schüttete das Wasser in einem Zug hinunter.
»Besser?«
Ich nickte. In Wahrheit war es kaum besser. Doch für diesmal musste es reichen.
»Rainer?«
»Ja, Lu?«
»Dieser Typ, der vor Weihnachten hier bei dir in der Praxis war, an dem Tag, als ich auch da war …«
»Als ich Notdienst hatte?«
»Genau. Ich meine den Typen, der gleich nach mir dran kam. Er hat sich als Martin Münchhausen angemeldet.«
»Ich erinnere mich. Was ist mit dem?«
»Was hatte er? Ich meine, was stimmte mit seinen Zähnen nicht?«
»Wenn ich es wüsste, dürfte ich es dir nicht sagen, aber in dem Fall verrate ich kein Geheimnis. Ich habe ihm gar nicht in den Mund geschaut.«
»Wieso nicht?«
»Weil er nicht mehr da war. Als ich ins Behandlungszimmer kam, war er verschwunden. Wahrscheinlich einer von der überängstlichen Sorte.«
»Wahrscheinlich«, echote ich murmelnd.
»Wieso wolltest du das wissen? Kennst du ihn?«
»Nein, nicht wirklich.« Dann blickte ich ihn drohend an. »Wegen des Geldes sprechen wir uns noch.«
*
Der Name meines Ex-Mannes schien Zauberkraft zu besitzen. Er ermöglichte mir Zutritt zu einer der exklusivsten kieferorthopädischen Praxen der Stadt, eine Art medizinischer Wallfahrtsort, der normalerweise so überlaufen war, dass neue Termine erst in frühestens einem halben Jahr zu haben waren. Wenn überhaupt. Dieses Wenn überhaupt galt vor allem für Patienten wie mich, die glaubten, dass sie der Segnungen ultimativer Kieferorthopädie auch als popeliges Kassenmitglied teilhaftig werden könnten.
Mein Termin war kein Problem. Ich rief an und bekam gleich einen für den nächsten Vormittag. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, zu dieser Tageszeit unterwegs zu sein, doch ich beschloss, es darauf ankommen zu lassen.
Je länger ich über meine neue Empfindlichkeit nachdachte, desto mulmiger wurde mir. Schließlich wurden die Tage immer länger und heller. Was sollte ich im Sommer tun? Mich tagsüber im Keller verstecken?
Dieser Gedanke rief wiederum ein vages Drängen in mir wach, es war, als würde etwas in meinem Inneren mir zurufen, dass ich mit dieser Idee der ganzen Sache schon näherkäme.
Doch so weit, mich auf solche Phantasien einzulassen, war ich noch nicht. Meine Zähne, respektive mein Kiefer schienen mir zu diesem Zeitpunkt der zentrale Punkt all meiner Schwierigkeiten zu sein. Ich steigerte mich förmlich in den Gedanken hinein, dass mein Kiefer demnächst am Ende wäre. Die Vorstellung, was aus meinen Gelenken werden könnte, wenn ich sie nicht behandeln ließ, brachte mich zum Schwitzen. Irgendwann wäre es so weit, Rainer hatte daran keinen Zweifel gelassen. Ein letztes Knacken – und aus.
Immer wieder machte ich probehalber den Mund auf und ließ es knacken. Es hörte sich grässlich an.
Als ich am nächsten Tag gegen zehn Uhr zu meinem ersten Termin beim Kieferorthopäden aufbrach, begegnete ich unten im Erdgeschoss Mehmet und einem seiner Kumpane. Die beiden lungerten vor dem Aufzug herum und unterhielten sich leise. Ich war mir nicht sicher, hätte aber darauf getippt, dass es derselbe Typ war, der damals im Keller das Messer gezückt hatte. Er war um die dreißig, hager und mit Goldschmuck behängt. Zu seinem Lammfellparka trug er Rolex und Ohrenbrilli. Seine tief liegenden Augen wurden von buschigen Brauen überschattet, seine Nase zeigte Tendenzen, sich schnabelartig zum Kinn hin zu krümmen, und seine Zähne hatten eine Regulierung weit dringender nötig als die meinen. Quittegelb und kariös lugten sie kreuz und quer zwischen seinen Lippen hervor, als er mich angrinste. Ich tat so, als hätte ich es nicht gesehen.
»Fuck?«, wandte sich Schnabelnase in
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