Beiss mich - Roman
nach der Bebänderung aufgehört: Mein Unterkiefer war in eine starre, weiter vorn liegende Position verschoben worden und konnte wegen der klobigen Sperren in Form von Aufbauten auf den letzten unteren Backenzähnen nicht zurückrutschen.
Ein weiterer, eher zufälliger Vorteil bestand darin, dass ich jetzt eine offizielle Entschuldigung für meinen Nahrungsverzicht hatte. Tatsächlich wäre mir das Essen, falls ich noch welches gebraucht hätte, mit meiner Spange ziemlich schwergefallen. Es wäre sogar eine regelrechte Quälerei gewesen, weil ich nicht kauen konnte. Außerdem hätte ich erstens nichts Hartes und zweitens nichts Süßes essen dürfen und mir drittens nach jeder noch so kleinen Mahlzeit akribisch die Zähne mittels Munddusche, Zahnseide, Zahnhölzchen und winziger Bürstchen reinigen müssen. Zusätzlich wurde die Einnahme von Vitamin C in großen Dosen empfohlen, ferner die Verwendung diverser aufeinander abgestimmter Lösungen zum Gurgeln und Spülen sowie einer Spezialpaste zur Fluoridzufuhr. Die Regeln für die Ernährung und Reinigung waren wie eine Art AGB in einem umfangreichen Patientenreader zusammengefasst und mussten strikt beachtet werden. Anderenfalls konnte es passieren, dass der Patient am Ende der Behandlung zwar einen wunderbar korrigierten Kiefer, aber keine Zähne mehr hatte.
Ich persönlich glaubte es guten Gewissens vertreten zu können, mein Säuberungsarsenal auf Zahnbürste und das gute alte H2O zu beschränken. Zum einen aß ich ja nicht nur weder Hartes noch Süßes, sondern überhaupt nichts, zum anderen wurde mir von Zahnpasta und den Lösungen übel.
Solveig zog sich den Mantel aus und warf ihn auf das Fußende meines Bettes. »Glaubst du vielleicht, ich rede von deinen Zähnen oder was?«
Jetzt wurde ich langsam wach. »Keine Ahnung.«
»Du isst nicht mehr!«, rief sie anklagend.
»Wenn du dieses komische Gestänge im Mund hättest, würdest du auch nicht mehr essen.«
»Du weißt genau, dass es nichts damit zu tun hat.«
»Ich weiß gar nichts«, behauptete ich. »Was ist los mit dir? Wieso giftest du hier rum?«
»Was los mit mir ist? Mit mir ?« Sie lief zum Fenster und machte sich daran, die Rollläden hochzuziehen. Mit einem raschen Blick auf die Uhr vergewisserte ich mich, dass es schon nach halb sechs war. Das war momentan die Grenze, einschließlich Sicherheitszuschlag. Leider verschob sie sich jeden Tag ein wenig weiter gen Abend.
Trotzdem zog ich mir sicherheitshalber die Decke über den Körper. Ich trug nur einen Body mit Spaghettiträgern und hatte mich nicht eingerieben.
»Das ist los!« Solveig deutete nach draußen, dann zeigte sie auf mich. »Du kannst kein Tageslicht mehr vertragen!«
»Du liebe Zeit, ich habe doch gesagt, dass ich wegen dieser Allergie zum Arzt gehe. Wenn du es genau wissen willst – ich habe übermorgen einen Termin.«
»Scheiß auf deine Arzttermine. Ich glaube dir sowieso kein Wort mehr. Und weißt du auch, wieso?«
»Nein«, sagte ich mit klopfendem Herzen.
»Tu doch nicht so!«, brüllte sie. In ihren Augen brannten Tränen, und plötzlich fuhr sie sich an den Hals und riss das Seidentuch weg. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie seit Neujahr ständig solche Dinger trug. Falls ich mir überhaupt Gedanken deswegen gemacht hatte, dann höchstens die, dass sie vielleicht Halsweh hatte oder neuerdings Halstücher besonders schick fand.
Doch das war ganz offensichtlich nicht der Grund. Sie hatte zwei dunkle, blutunterlaufene Löcher am Hals.
11. Kapitel
D a!«, schrie Solveig. »Sieh dir das an! Kommt dir das vielleicht irgendwie bekannt vor?«
Ich fasste an meinen eigenen Hals und wurde starr. »Ich dachte … du hast doch gesagt, ich hätte da Pickel aufgekratzt …«
»Luzie, ich hatte Angst, du würdest sterben! Du warst todkrank! Glaubst du vielleicht, da wollte ich noch mit dir darüber reden?« Sie starrte aus dem Fenster. »Außerdem dachte ich eine Weile später wirklich, dass es bei dir vielleicht tatsächlich nur so eine Art Ekzem war. Man konnte ja schon nach drei, vier Tagen nichts mehr davon erkennen. Bei mir heilen sie nur ganz langsam zu.«
Ich legte mir die Hände vor die Augen. Draußen war es noch nicht dunkel genug.
»Aber jetzt denkst du das nicht mehr, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen.
Es war an der Zeit, dass ich mich einigen unbequemen Wahrheiten stellte. Ich zeigte auf ihren Hals. »Woher hast du das?«
»Das weißt du doch. Von Martin. Er hat … er hat mich
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