Beiss mich - Roman
inklusive dreimaligem Haarewaschen, schnitt ich mir Hand- und Fußnägel, rasierte mir mit Martins Rasierequipment Achselhöhlen und Beine, bestrich mich ausgiebig mit seinem teuren Deo, besprengte mich mit seinem noch teureren Rasierwasser, benutzte seinen Föhn und seine Zahnbürste. Anschließend bewunderte ich mich in dem großen Spiegel. Die Fläche war vom Dampf noch leicht beschlagen, doch das trübte meinen Blick nicht wesentlich.
Ich war noch nie so schön gewesen. Meine Haut war überall von makellosem, ätherisch-seidigem Glanz, meine Brüste waren spitz und fest, meine Taille schmal. Meine Augen leuchteten in tiefdunklem Blau, meine Lippen schimmerten in sattem Rot. Mein Haar fiel in wildem Gelock bis über die Schultern.
Meine Eitelkeit kannte keine Grenzen. Dieser weißgoldene Engel war tatsächlich ich! Entzückt drehte ich mich hin und her und strahlte mich im Spiegel an. Und hörte sofort wieder damit auf.
»Scheiße«, sagte der Engel desillusioniert.
Welcher Engel lief schon mit solchen Zähnen herum?
Meine Zähne, so musste ich missmutig zugeben, waren ein Kapitel für sich. Nicht, dass sie mittlerweile nicht ebenso makellos gewesen wären wie der Rest von mir. Doch unter all dem Metall waren sie kaum zu sehen. Im Unterkiefer war der Drahtbogen zwar wegen der zum Teil abgelösten und frei herumrutschenden Brackets recht locker, aber noch vollständig vorhanden. Im Oberkiefer fehlten etliche der silbrigen Plättchen ganz. Der Bogen war mehrfach gebrochen und auf der rechten Seite völlig verschwunden. Links hing er nur noch an drei Brackets und stach hinten, wo eine Befestigung gänzlich fehlte, in die Schleimhaut der Wange. Ich versuchte, den Draht zu verbiegen und einzurollen, damit er mich nicht mehr störte, doch es wollte nicht klappen. Er rutschte immer wieder in seine Ausgangsposition zurück.
In Martins Nageletui gab es eine stabil aussehende Zehenzange, mit der ich mein Glück versuchte. Überraschenderweise funktionierte es sogar einigermaßen. Es gelang mir zumindest, das hintere, herausragende Ende des Drahts zu kappen. Ich spuckte es aus und probierte dasselbe mit dem verbliebenen Teil, doch der Winkel war ungünstig, weshalb ich lediglich schaffte, das Ding noch weiter zu verbiegen. Auch die Brackets blieben an Ort und Stelle, obwohl ich sie mit der Zange traktierte. Es fing an, wehzutun, weshalb ich meine Bemühungen notgedrungen fürs Erste einstellte. Ich hatte nicht vor, mir wegen dieser blöden Dinger aus Versehen einen Zahn auszureißen. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit würde ich schon eine Lösung finden. Rainers Praxis befand sich ja praktisch um die Ecke. Ich wusste, dass er häufig abends noch dort zu tun hatte, womit ich die Chance hatte, meine Kieferregulierung endgültig abzubrechen, vorausgesetzt, ich schob es nicht vor mir her. Wenn die Tage erst länger wurden, waren meine Möglichkeiten zwangsläufig noch eingeschränkter als jetzt. Grund genug also, es recht bald in Angriff zu nehmen. Vielleicht morgen schon.
Momentan hatte ich, abgesehen von meinen Zähnen und meinem unzugänglichen Gastgeber, auch noch ein anderes, weit akuteres Problem: Ich hatte nichts zum Anziehen. Und das war nicht etwa allegorisch zu verstehen, sondern wörtlich.
Eher würde ich nackt herumlaufen, als das fleckige, verschwitzte, blutige Zeug noch einmal anzufassen.
Fürs Erste behalf ich mich mit einem Handtuch, das ich mir um den Körper wand.
Auf diese Weise ausgerüstet, machte ich mich auf die Suche nach frischer Kleidung. Ich hatte Glück. Gleich neben dem Badezimmer fand ich eine Art Ankleidezimmer, jedenfalls kam es dem nahe, nach den überall herumliegenden, teils geöffneten, teils verschlossenen Koffern und Reisetaschen zu urteilen. Alles stand kunterbunt durcheinander, über die gesamte verfügbare Fläche des Zimmers verstreut. Von Ordnung schien der Mann nicht viel zu halten. Ich stieg über ein paar Koffer hinweg und schaute mich in dem ganzen Gepäckwirrwarr um.
Es handelte sich durchweg um teure, strapazierfähige Behältnisse, die geeignet waren, die häufigen Umzüge ihres Besitzers unbeschadet zu überstehen. Als ich ein paar davon öffnete, sah ich, dass er Kleidungsstücke für viele Gelegenheiten und jeden denkbaren Bedarf besaß.
Martin war zwar rund dreißig Zentimeter größer als ich und sicher annähernd vierzig Kilo schwerer, doch ich war zuversichtlich, dass ich unter seinen Sachen etwas finden würde, das für mich geeignet war. Und ich
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