Beiss mich - Roman
antwortete er ohne aufzuschauen.
»Bei mir auch?«
»Ich denke schon.«
»Wann denn?«
»So in zwanzig, dreißig Jahren.«
»Na super«, sagte ich lahm. Doch meine Neugier war noch nicht befriedigt. »Und wie fühlt sich das an? Kommst du dir dann so schnell vor, wie es aussieht?«
»Nein, ich fühle mich dabei normal. Die Umgebung wirkt wie eingefroren.«
»Und wie lange kannst du das so durchhalten? Zehn Meter? Zwanzig?«
»So lange, wie ich es brauche«, sagte er einfach.
»Wie praktisch«, meinte ich spitz. Dann fiel mir ein, dass ich besser höflich zu ihm sein sollte, denn ich war in jeder nur denkbaren Hinsicht auf ihn angewiesen. Ich hatte erstens keine feste Bleibe und zweitens keine Ahnung, wie ich mich als Vampir künftig durchs Leben schlagen sollte.
Da er die einzige verfügbare Sitzgelegenheit beansprucht hatte, raffte ich die ausgebeulte Jogginghose zusammen und hockte mich im Schneidersitz vor dem kalten Kamin aufs Parkett. Beiläufig fragte ich: »Sag mal, würde es dir viele Umstände machen, wenn ich für eine Weile bei dir im Keller penne?« Als er aufblickte, setzte ich eifrig hinzu: »Ich nehme auch gern die Isomatte. Den Sarg kannst ruhig du benutzen.«
»Du bist mein Gast, solange du es wünschst.«
Erleichtert atmete ich auf. Das wäre zum Glück schon mal geklärt. Für mein leibliches Wohl war vorerst auch gesorgt, wenn ich Martin glauben konnte. Falls ich irgendwann wieder durstig wurde, konnte ich mir immer noch was einfallen lassen. Oder an den Kühlschrank gehen.
Ich stand auf, schlenderte zum Fenster und drückte den dort angebrachten Bedienungsknopf für den elektrischen Rollladenheber.
Mit schwachem Surren glitt der Laden nach oben und gab den Blick in den Garten frei. Im Lichte der Dämmerung erstreckte sich ungepflegter Rasen bis zu einer Gruppe von Kiefern, hinter denen zur Straße hin die Mauer aufragte. Die Sonne war vielleicht vor einer knappen Stunde untergegangen.
Es ärgerte mich enorm, dass er die ganze Zeit auf seinen Bildschirm starrte und tippte, obwohl mir so ungeheuer viele Fragen auf der Seele brannten, dass ich hätte schreien können. Da war zum Beispiel die Sache mit den Pferdekadavern neulich in der Zeitung …
»Das war ich nicht.«
Nun ja. Es war zwar ziemlich penetrant, wie er meine Gedanken ausspionierte, ersparte mir aber andererseits auch den Aufwand, knifflige Fragen zu formulieren.
Gut, die armen Pferde mochte irgendein geisteskranker Weideripper auf dem Gewissen haben, aber es war eine Tatsache, dass Martin an ein und demselben Abend gleich zwei Frauen gebissen hatte. Mich und meine beste Freundin.
Na schön, ich hatte zurückgebissen, doch das war eine andere Sache.
Erwartungsvoll schaute ich zu ihm hinüber, doch er machte keine Anstalten, meine unausgesprochene Frage zu beantworten. Also musste ich sie wohl oder übel stellen.
Ich beschloss, es auf Umwegen anzugehen. »Wieso bist du überhaupt auf unsere Silvesterparty gekommen?«
»Ich war eingeladen.«
»Warst du nicht überrascht, als Solveig dich angerufen hat?«
»Nicht wirklich. Ich habe mitbekommen, wie sie sich bei Freddy meine Nummer notiert hat.«
»Du hast es darauf angelegt ?«
»Nein«, sagte er unwirsch. »Ich sagte: Ich habe es mitbekommen.«
»Wieso bist du auf die Feier gekommen?«, insistierte ich. »Hattest du von Anfang an vor, sie zu beißen?«
»Nein. Ja. Ich weiß nicht.«
»Was denn nun?«
Er schlug mit der Faust auf seinen PC-Tisch. »Himmel, ich hatte einfach Lust, wieder mal unter Leute zu gehen! Ich war seit fast fünf Jahren auf keinem Fest mehr eingeladen!«
Bei seinen Worten schnürte sich etwas in mir zusammen. Das musste sie sein, die schreckliche Einsamkeit, von der er gesprochen hatte.
In seinem Gesicht arbeitete es. »Dass du dann auch da warst und mich erkannt hast, war … aufregend. Es war wie eine Scharade, ein spannendes Verwirrspiel, bei dem keiner genau wusste, woran er war.«
»Ich war krank«, fauchte ich. »Ich habe die schlimmste Grippe aller Zeiten ausgebrütet! Und ich habe noch tagelang hinterher gedacht, dass ich an Halluzinationen gelitten habe!«
»Wenn das so war, tut es mir leid. Für mich war es trotzdem ein sehr amüsanter Abend.«
Amüsant? Das war ja die Höhe! Wahrscheinlich dachte er dabei an die Scampi in meinem Ausschnitt und die Remoulade auf meinem wunderschönen Kleid!
»Sicher hast du dich halb totgelacht«, meinte ich erbittert. »Und dann musstest du ja unbedingt auch noch Solveig beißen!«
»Ach,
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