Beiß mich, wenn du dich traust
Sunny. Ich spüre, dass sie mich direkt ansieht, und ich wünschte, sie würde das lassen. »Die Direktorin hat doch gesagt, dass dieses Wesen etwas vollkommen Neues ist, etwas, von dem noch nie jemand gehört hat.«
»Die Vorstellung ist wirklich grauenhaft!«, wirft Mara ein und verzieht angewidert das Gesicht.
»So ein abscheuliches, bösartiges Monster, das seine Krallen in den armen Corbin schlägt und sein Blut saugt ...«
Ich halte es nicht mehr aus und springe von meinem Platz auf. »Ich muss … mal was in einem Buch nachsehen«, murmele ich und gehe zur Tür. Eigentlich wollte ich sagen, ich müsse mal auf die Toilette, aber blöderweise verspüre ich als Vampir keinen Drang mehr zu pinkeln -
und als Elfe kann ich nicht lügen. Echt eine Superkombination.
Ich spüre die Blicke in meinem Rücken, als ich die Tür aufschließe und hinaus in den Flur der Bibliothek gehe, wo mir blutige Tränen in die Augen steigen. Was soll ich nur tun? Wie soll ich von hier wegkommen? Ich merke, wie ein Wächter mich von der anderen Seite des Gangs argwöhnisch beobachtet, also wische ich mir vorsichtig die Tränen ab und biege um die nächste Ecke.
Ich sitze in der Falle. Und bin damit eine leichte Zielscheibe. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie herausfinden, wer ich wirklich bin. Was ich wirklich bin.
In Panik spurte ich zur Eingangstür, aber sie ist verschlossen, ebenso alle Fenster. Und selbst wenn ich einfach hinausspazieren könnte, würde es mir nichts nutzen. Da draußen laufen überall Agenten von Slayer Inc. herum, die schwer be-waffnet sind mit Armbrüsten und Pflöcken und beängstigend aussehenden mittelalterlichen Äxten. Ich würde es keine drei Meter weit schaffen, ehe sie mich schnappen.
Entmutigt lehne ich mich an eine Wand. Ich werde an diesem Ort sterben. Ich werde meine Eltern nie wiedersehen.
Werde Jareth nie wiedersehen .. .
»Rayne!«
Oh Gott, was jetzt? Ich sehe Corbin durch den Flur auf mich zulaufen, seine smaragdgrünen Augen voller Sorge. »Bist du okay?«, fragt er.
Ich versuche zu nicken, aber das wäre eine Lüge.
Also beschränke ich mich stattdessen darauf, den Kopf zu schütteln.
Corbin streicht mir zärtlich eine Haarlocke aus dem Gesicht. Ich weiß, es soll eine tröstende Geste sein, aber es führt nur dazu, dass ich mich noch mieser fühle. Wenn er die Wahrheit über mich wüsste - er wäre so was von angewidert.
Abgestoßen. Wahrscheinlich würde er mich auf der Stelle umbringen. Und da wir im Elfenreich ja so versessen auf die Wahrheit sind, muss man wohl sagen, dass ich es sogar verdient hätte.
Denn selbst jetzt, während ich hier vollkommen zerknirscht vor ihm stehe, kann ich nicht anders, als an sein Blut zu denken.
Aber das weiß er nicht. Er ist vollkommen ahnungslos. »Keine Sorge«, redet er leise und beruhigend auf mich ein. »Ich werde dich beschützen. Ganz egal, was passiert. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Danke«, sage ich und starre auf meine Füße.
»Ich verdiene dich gar nicht.« Wie wahr.
Er führt mich in eine leere Ecke und zieht mich runter auf den Boden. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die harte Steinwand und starre zur Decke hinauf. Er nimmt meine kalte Hand in seine warme und streichelt meine Handfläche, während er mir tröstende Nichtigkeiten ins Ohr flüstert.
Ich weiß, ich sollte das nicht zulassen. Ich weiß, ich sollte größtmöglichen Abstand zu ihm halten.
Aber ich kann mich nicht von ihm loseisen.
Stattdessen schmiege ich mich an seine Schulter, atme seinen warmen Duft mit der Holznote ein und versuche, alles andere auszublenden und diesen Moment des Friedens zu genießen. Vielleicht ist es das letzte Mal für lange Zeit.
Vielleicht ist es überhaupt das letzte Mal, dass wir so zusammen sind.
Prompt stört uns ein lautes Kreischen. Ich reiße die Augen auf, Angst zieht mir das Herz zusammen. Kurz darauf jagt meine Schwester durch den Flur, gefolgt von einem Jungen ich nicht kenne.
Sie lachen und quietschen ausgelassen und igno-rieren die Ermahnungen der Bibliothekare, still zu sein.
»Deine Schwester kann ganz schön nerven«, bemerkt Corbin trocken.
Ich sehe Sunny nach, als sie um die Ecke ver-schwindet »Normalerweise ist sie nicht so«, er-widere ich. Genau genommen ist sie nie so. Ob sie wegen all dem Stress, unter dem wir stehen, übergeschnappt ist? Oder geht hier noch irgend-was anderes vor? »Ich werde heute Abend mal mit ihr reden«, füge ich hinzu.
»Eigentlich hatte ich gehofft, dass du heute
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