Bel Canto (German Edition)
– also sprach – Zarathustra – Carathustra – Giulia sprach das immer so aus, »c« statt »z«.
Was sie erzählte, weiß ich nicht, bis dieses Wort: Zarathustra – Carathustra jäh verhinderte, mich auf die Miniaturbühne des menschlichen Dramas zu konzentrieren. Dies Wort hörte ich oft aus ihrem Mund: Carathustra, ebenso ihre Frage, ob Ernesto sie noch liebe und die Erzählung über ihre vergangenen und kommenden Erfolge.
Ich hatte Angst, Giulia könnte mir vielleicht eine direkte Frage stellen (Giulia wirft mir oft Unhöflichkeit vor); nein, ich hörte richtig: Carathustra.
Ich schaute zu Giulia und bemühte mich vergeblich, ein Lächeln zu unterdrücken, wie immer, wenn sie vor mir den Namen eines Dichters, Philosophen, irgendein Zitat, zum Beispiel veni, vidi, vici ausspricht. Giulia spricht: vici: vitschi.
Das hat sie zweifellos von Ernesto aufgeschnappt oder sich vielleicht doch aus dem Unterricht bei Fräulein Koníčekgemerkt? Veni, vidi, vitschi. Sprach Giulia das aus oder der Bühnenschauspieler auf dem Tisch im Hotelzimmer? Ich schaue unverwandt in diesen Raum des menschlichen Dramas. Welcher Held spricht das so fehlerhaft aus? Ernesto? Nein, Giulia fragt nicht, ob er sie liebt. Wieder hatte ich mich geirrt.
Giulia erzählt von ihrer neusten Methode der Vokalisation. Vielleicht wird das ihren großen Lebenserfolg herbeiführen: die Vokalisation! Die richtige Aussprache der Vokale, die alle brauchen, die im Film oder im Radio arbeiten. Habe ich richtig verstanden? Giulia erzählt – nein, sie gibt dem Hoteldiener Anweisungen, der auch die Personen des philosophischen Dramas mit schlechter Vokalisation abtransportiert.
Mit Schrecken bemerke ich, lieber Leser, wie weit mich der Strom des Erzählens fortreißt!
FÜNFTES KAPITEL
Ich ging heute zu ungewohnter Stunde aus, weil ich einen Freund begleitete, der unsere Stadt verließ. Ich habe wieder einmal die ganze Abfahrtszeremonie überstanden: in der noch offenen Waggontür unser Freund oder Bekannter, schon haben wir uns nichts mehr zu sagen und warten nur, dass sich die Räder in Bewegung setzen. Wir halten es für unsere Pflicht, das Warten mit Freundschaftsbezeigungen zu bemänteln. So ist Warten stets: wer auch abfährt, es wird uns immer ein wenig erleichtern, wenn die Erwartung von etwas Unvermeidlichem von uns genommen wird. Im Geist begleiten wir nicht den Freund, wir begleiten ein Stück weit das Rollen der Räder, unter denen jungfräulich die Sekunden, Minuten, Stunden ächzen – unsere Phantasie geht auf die Reise, auf der ein erster Strauch, eine Baumgruppe, ein Garten, ein Dach, eine unbekannte Zukunft versprechen.
Ich kehrte nach Hause zurück, um diese Zeit halte ich mich gewöhnlich nicht draußen auf, steuerte aber auf den Marktplatz zu. »Ich werde mir wenigstens wieder mal den Mittagscorso ansehen«, habe ich mir gesagt, als wäre man wirklich schon zu unüblicher Stunde auf Abenteuer aus dem Haus gegangen – und bin Matteo begegnet. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn nicht gesehen hatte. Matteo!
Einmal begegne ich ihm zweimal im Jahr, dann wieder einmal in zwei Jahren, damit wäre die Zahl unserer voraussichtlichen Treffen ausgeglichen. In Zeiten, als wir guteFreund waren, sahen Matteo und ich uns fast täglich, und wenn wir uns zufällig treffen, tun wir beide immer so, als wäre es ein großes Ereignis. Ich würde jedoch mir und vielleicht auch Matteo Unrecht tun, wenn ich an der Aufrichtigkeit unserer Zuneigungen zweifelte, es sind so viele Jahre verflossen, als Matteo und ich –
Und schon wäre ich bei sentimentalen Erinnerungen! Sobald Sie nämlich mit Matteo zusammen sind, widerstehen Sie ihm nicht. Er ist sich dessen bewusst. Es gibt keinen Grund, warum Matteo nur in der Vergangenheit leben sollte. Er ist ein gutaussehender Mann, der eine schöne Frau und eine anständige Anwaltspraxis hat. Matteo aber lebt nur in Erinnerungen, in der Vergangenheit. Ob das immer so war und woran er sich zwischen seinem zwanzigsten und dreißigsten Jahr erinnerte, weiß ich nicht, damals kannte ich ihn nicht.
Ich vermute, von allen Frauen hat er die, mit der er verheiratet ist, am liebsten; sie ist bis heute schön und Matteo versteht sich gut mit ihr. Er lebt aber, als hätte er eine unvergessliche, einzigartige und durch nichts übertroffene vergangene Liebe im Sinn. Soweit ich weiß, hatte er kein unvergessliches Lebensabenteuer, keine glänzende Geschichte, nach der er sein ganzes weiteres Leben langweilig finden müsste.
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