Bel Canto (German Edition)
so ein schwüler Tag!
Nur Mephisto wartete geduldig bis zum Abend. Unterdessen hatten alle schon ein paar Biere intus, Mephisto spielte mit den kreisförmig bedruckten Bierdeckeln. Bei den anderen Gästen rief er ein wenig Verachtung hervor, dass er so wenig trinkt, vor allem bei denen, die wegen Margarete einen halben Liter Bier in sich hineinschütteten und darauf angewiesen waren, das Geschehen zu verfolgen –
Einer nach dem anderen verzichtete auf Margarete und begnügte sich mit der törichten Vorstellung, sie könnten, wenn sie zu ihrem Tisch kam, wenn sie so stehenblieb, ihre beiden blonden Zöpfe sehen. Ihr Vorstellungsvermögen eilte zusammenhanglos, hastig, sprunghaft, lückenhaft dahin, führte nicht dazu, sich in die Rolle eines Verführers von Margarete hineinzufinden, sie brachten im entscheidenden Augenblick den Zusammenhang durcheinander, und das, was ein wahrhaftiges Ereignis sein sollte, ergoss sich folgenlos in ihren Körper, wie alle die Gläser Bier, die sie ausgetrunken hatten. Nur Mephisto spielte geduldig mit den Bierdeckeln, auf die er wettet, ob Margarete noch Jungfrau ist, ob sie einen Liebhaber hat, einen Ehemann, ob sie einen ordentlichen Charakter hat oder leichtsinnig ist.
Was bedeutet das für Margarete, der Mephisto in der Bierkneipe auflauert? Es ist für die Heldin ein Spiel, das Bierhalle heißt. Mephisto lauert darauf, ihre Stimme, die nur gute Schulung braucht, zu vernehmen, lauert, ob sie das Wunder der Poesie ist. Mephisto, dieser Meister der Technik, spielt nachdenklich mit den Bierdeckeln und vergleicht Margaretes Gestalt mit der Gestalt der Sängerin, die heute Abend in der Staatsoper ihre Rolle singt.
Die mit Efeu überwachsenen Gitter haben eine Laube gebildet, die Efeuranken sind in die Höhe gewachsen. Margarete, Kellnerin im Bierlokal, hat schon Erfahrungen, und gerät plötzlich in die Welt der Unschuld. Fausts Aufgabe ist es, Verführer zu sein oder geprellter Liebhaber. Darin gleicht der Mensch allen anderen, die mit ihm in der Bierhalle sitzen und sich nach Margarete sehnen. Und wenn dabei in ihrem Kopf eine Stimme ertönen wird, dann nur, weil Mephisto ihnen das einflüstert. Der kennt seine Rolle zu gut, dreht nachdenklich die Bierdeckel in den Fingern und denkt an die Gewinne der Aktiengesellschaft, die das hier ausgeschenkte Bier braut. Mephisto überblickt genau, was sich in Fausts Kopf, in den Köpfen aller anwesenden Gäste abspielt und ist darauf bedacht, sich über die Produktionsund Kapitalbedingungen, auf denen der Bierhallen betrieb beruht, klarzuwerden.
Die Bierhalle liegt an einer großen Straßenecke, im Erdgeschoss des Hotels, in dem Ernesto sich einquartiert hat. Habe ich schon gesagt, dass Giulia zu ihm gezogen war? Es kam ihr gelegen. Was hätte sie gemacht, wenn Ernesto nicht gekommen wäre und sie nicht eingeladen hätte, zu ihm ins Hotel zu ziehen?
Vielleicht hätte sie dem Vater geschrieben und sich inzwischen etwas von ihrer Vermieterin geborgt.
Der Vater hatte Giulia geschrieben, er würde ihr kein Geld mehr schicken, sie habe genug studiert. Der Vater kann überhaupt nicht begreifen, was es für seine Tochter bedeutet, bei Professor Lehnmann zu studieren.
Sie antwortete ihm in einem hochmütigen Brief (auf Hotelpapier): Sie habe gerade ein Engagement erhalten und würde deswegen nicht nach Hause kommen.
Giulia ist so leichtsinnig und überzeugt, der Vater wird bis dahin die Summe vergessen haben, die er ihr geschickt hat, und sie wird ihn erweichen können, weiter Studiengeld zu gewähren. Es liegt nicht in Giulias Wesen, sich mit der Zukunft zu quälen. Sie ist überzeugt, auf sie wartet Erfolg. Sie wird nur von den gegenwärtigen Unannehmlichkeiten geplagt und die nimmt sie geduldig hin, weil sie überzeugt ist, sie werden vergehen.
Der Vater will ihr drohen?! Giulia könnte ihre Mitgift einfordern, vielleicht könnte sie das durchsetzen! Der Vater hatte ihr im letzten Brief geschrieben, sie hätte bereits das gesamte mütterliche Erbe durchgebracht. Aber Giulia hat doch noch ihr Erbe! Ihr Bruder hat vom Vater das Geschäft bekommen, ihre Schwester ihr Erbteil und auch Giulia muss ihren rechtmäßigen Anteil bekommen.
Das schreibt sie dem Vater auf Hotelbriefpapier. Sie schreibt, sie sei einige Tage ins Hotel gezogen, hätte für die Sommersaison ein Engagement in einem Kurort erhalten, Professor Lehmann hätte ihr empfohlen: Erfahrungen sammeln. Nach einem Jahr Studium bei Professor Lehmann kann man an ihrer Stimme nichts
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