Bel Canto (German Edition)
und leichteren Worte des Gesangs, wieder und wieder von Professor Lehmann unterbrochen; er nahm das Instrument in die Hand und nach einer Pause erschallten die Töne, nicht nur vom richtigen Atem, von der richtigen Spannung der Bauchmuskeln, der Brust, der Kehle, dem Luftstrom in Mund und Nase getragen, sondern vom Strom des Bluts, einem geheimen, sich in Bewegung setzenden Strom, die hinaufsprudelnde Quelle als Stimme in die Höhe tragend; zugleich sanken sie leicht in die Tiefe, flogen auf zur Höhe –
Im Vorzimmer trat Stille ein, gespannte Stille – die Stimme stieg, stieg, fiel, stieg, es schien, sie könne nicht vollkommener klingen – und wieder trat Stille ein, dass alle im Vorzimmer dachten, die Stimme, die schwieg, bringe keinen Ton mehr hervor. Und plötzlich, in der Stille, erhob sie sich: für den Bruchteil einer Sekunde war noch zu spüren, wie die Hand Professor Lehmanns auf sie gelegt wurde, die auf einmal nachgab und die Stimme, befreit, sich erhob, getragen durch die Höhe der Töne, frei die Silben berührend, flog über sie auf, und klang, sang!
Verstummte. Auf allen Gesichtern im Vorzimmer erschien ein Ausdruck von Ungeduld, von Angst.
Wie oft begleitete ich Giulia! Nie sah ich sie so erregt wie die anderen. Zwar hatte auch sie, als sie nach einer kurzen Lektion (einige Schüler hatten Stunden, die nur zwanzig Minuten dauerten) in das Vorzimmer zurückgekehrt war, einen Ausdruck in den Augen, wie ihn Kinder nach einem strengen Tadel haben; mir schien, es kümmere sie nicht, dass der Spitzenbesatz ihres Kleides von der Hand des Professors ein wenig zerzaust war, der gezeigt hatte, wie nötig es sei, dass die Bauchmuskeln die Stimme stützen. In diesem Augenblick, als sie aus der Tür kam, sammelte sie offensichtlich alle Kraft, um nicht zu zeigen, dass auch sie der Angst vor Professor Lehmann unterlegen war. Man spürte, hinter dieser Tür berührt die Hand des Professors die inneren Körperteile dieser jungen Männer und Frauen. Alle im Vorzimmer waren auf diese inneren Körpergefühle konzentriert. Sie dachten an nichts anderes. Das war ihrer Miene deutlicher anzusehen, als im Wartezimmer beim Arzt. Wie dort war deutlich zu sehen, dass ihre Gedanken und Gefühle nicht die täglichen Sorgen und Interessen sind.
Wie oft habe ich Giulia so begleitet! Einmal (sie studierte schon das dritte Jahr bei Professor Lehmann) hat sie mich schließlich dem Professor vorgestellt. Ich weiß nicht mehr, ob sie mich als einen Verwandten eingeführt hat. Als ihren Landsmann? Ich hatte gerade Zeit, den Klavierdeckel ohne Noten wahrzunehmen und den Ausdruck des Professors, der eine Sekunde seines Lebens mit interessiertem Blick sich eine bestimmte Materie, ihre Form und ihre Möglichkeiten anschaut. Ob er vor einem jungen Mädchen einen Akkord der Tonleiter anschlug, das vor ihm den Mund öffnen und zu einem Ton ansetzen sollte, oder ob er in der Pause einer festlichen Aufführung, in der sein berühmtester Schüler oder seine Schülerin sang, im Theaterfoyer stand – sein Gesichtsausdruck zeigte keinen großen Unterschied. Sein Ausdruck war immer aufmerksam auf die Eigenschaften des Stimmmaterials gerichtet, auf seine Möglichkeiten, auf Regeln, die man hätte ableiten können.
Welche Regeln besitzen absolute Allgemeingültigkeit? Ich will nur sagen, dass ich Giulia gern zu ihren berühmten Lehrern begleitet habe (denn nach drei Jahren schien es, Professor Lehmanns Methode sei für ihre Stimme ungeeignet). Gern saß ich, trotz aller Enge, in den vollen Vorzimmern der berühmten Gesangslehrer. Ich hatte diese jungen, in der Mehrheit schönen Mädchengesichter gern, die sich so entschlossen von ihrer Vergangenheit lösten, um das Schicksal von Opernhelden auf sich zu nehmen. Sie schienen mir viel interessanter als die Heldinnen, die ihre Familien, ihre Ehegatten verlassen, deren Schicksale sich mit kleinen Veränderungen einförmig wiederholen. Hingegen diese Heldinnen, deren Atem die Spitzenrüschen im Vorzimmer Professor Lehmanns bewegte?! IhreKörper mussten sich einer strengen Prüfung unterwerfen, um in der Heldinnenrolle anerkannt zu werden. Ich spürte die besondere Erlesenheit ihrer Körper, ihrer Organe. Es umgab sie eine besondere Atmosphäre: als ob sie schon auf der Bühne stünden, den Leidenschaften, der Liebe, der Opferbereitschaft, dem Hass, der Bosheit, dem Abenteuer, dem Tod ausgeliefert. Ich sah sie in ihren mehr oder weniger eleganten Kleidern und Hüten. Oft legten sie nur den Hut ab.
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