Bel Canto (German Edition)
sonst hätte ich von ihrem wirklichen Leben Kenntnis erhalten! Denn den meisten Menschen erlaubte sie nur, sie als schön, jung (als sie dem Vater den Brief aus dem Berliner Hotel schreibt, ist sie neunzehn), geliebt, außerordentlich begabt zu sehen. Professor Lehmann hatte gesagt: » Böhmen ist mit guten Stimmen gepflastert. «
Es gab Momente, wo Giulia die Wahrheit sagte, sie entschlüpfte ihr manchmal, wenn sie, gewöhnlich improvisiert, von ihrem Leben erzählte. Mir gegenüber gebrauchte Giulia weder Lüge noch Wahrheit, sie benutzte beides, nur eben mit Rücksicht auf das gewünschte Bild. Mir gegenüber brauchte sie den Verlust ihrer Jungfräulichkeit nicht zu verheimlichen. Erst zehn Jahre später entschlüpften ihr darüber vollkommen sachliche, von ihr für bedeutungslos gehaltene Bemerkungen, zu deren unwillkürlichem Mitwisser ich wurde, und die sie möglicherweise ebenso leicht einigen ihrer Theaterkolleginnen anvertraut hat.
Ernesto sagte mir immer wieder, Frauen würden über diese Dinge viel unmoralischer reden als Männer. Ich aber ertappte Giulia niemals bei dem zweideutigen Lächeln, das Frauen bei solchen Gesprächen aufsetzen.
Mir hat sie anvertraut – das entschlüpfte ihr, dass sie im ersten Jahr ihres Gesangsstudiums in Berlin Mittag und Abend oft nur trockene Kartoffeln hatte. Nur so habe ich von ihr auch erfahren, dass sie damals mit Ernesto vier Wochen am Meer verbracht hat. Das hat sie mir erst ein knappes Vierteljahrhundert später gesagt. Ich habe es damals aber schon von Frau Lavinia gewusst. Damals musste Giulia darauf achten, dass niemand davon erfuhr. Sie musste so tun, als ob sie Frau Lavinia nicht kennt, die durch einen unglücklichen Zufall ebenso wie Giulia und Ernesto diesen Ort zum Sommeraufenthalt gewählt hatte. Damals war es nicht einmal Ernesto recht, dass ihn Frau Lavinia mit Giulia sah.
Giulia, bestrebt, sich möglichst gut in die Rolle der Geliebten Ernestos hineinzufinden, hat selbstverständlich nichts von trockenen Kartoffeln erwähnt, (natürlich auch nichts vom ersten Liebhaber), hat nicht die bitteren Gefühle erwähnt, die sie überkamen, als sie feststellte, Ernesto ist das Auftauchen Frau Lavinias unangenehmer als ihr, als sie sah, er will die gemeinsamen Ferien mehr als sie verheimlichen. Es kam Giulia damals gelegen (und sollte mehr ihr als Ernesto gelegen sein), dass Frau Lavinia nicht erfahren hat, sie und Ernesto würden gemeinsam in einem Hotel, in einem Zimmer wohnen. Giulia hatte begriffen, dass Ernesto sich zu binden fürchtet und Giulia zum Ballast seiner Zukunft wird. Giulia sah das damals klar. Ernestos Verhalten beim Auftauchen Frau Lavinias hatte ihr das vor Augen geführt.
Das hat sie nicht zugelassen, nicht einmal sich selbst gegenüber. Sie musste lügen: sie musste sich Ernesto und Frau Lavinia gegenüber verstellen, wenn sie wollte, dass wahr blieb, was das ganze Leben dauerte – dass Ernesto sie liebt. Ernesto liebte sie leidenschaftlich. Das behauptete sie doch ihr Leben lang. Wie war das mit seiner Feigheit zu vereinbaren, mit der er bemüht war, sich allen Folgen, die aus seinem Verhältnis zu ihr hätten entspringen können, zu entziehen?
»Die Eigenliebe ist die Triebfeder aller unserer Taten«, sagt Ernesto. Rechtfertigt er damit sein Benehmen gegenüber Giulia? Statt durch diese Worte vor ihm gewarnt zu sein, wird Giulia im Stillen und im echten Wortsinn ihr Opfer. Sie stellte Ernesto als Helden dar, von dem sie geliebt wurde. Dann hat sie sicher die im Krankenhaus verbrachten Tage verschwiegen, von denen ich nur durch eine zufällige Bemerkung ihres Bruders erfahren habe: er ließ sie vor mir fallen, erregt durch die Entrüstung im Streit um das väterliche Erbe. Mir gegenüber hat Giulia darüber kein Wort erwähnt.
Wenn Giulia die Wahrheit sagte, bemerkte das niemand: Es stach von der üblichen Art, wie Giulia (und Leute überhaupt) über ihr Leben redete, ab.
Hatte eine ihrer Kolleginnen in der Garderobe aus hysterischer Angst, aus Furcht, in anderen Umständen zu sein, geweint, hat Giulia sie vielleicht sofort in den Arm genommen: » Nur nicht weinen – nimm dich doch zusammen – kannst du ihn nicht heiraten? – mach doch keinen Skandal – bist doch nicht die erste, die das durchgemacht hat – das hast du doch im Voraus gewusst « – höre ich Giulias Stimme, ich höre ihre Stimme voller Überlegenheit, Überlegenheit?
Damals vielleicht, vielleicht, hat sie sich ihrer Kollegin anvertraut, wer weiß, schon für
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