Bel Canto (German Edition)
Ich sehe Giulia im dunkelblauen, mit hellen Spitzen besetzten Frühjahrskostüm vor mir, im eleganten Hut, ich sehe sie, wie sie mit einer Kollegin im Vorzimmer spricht; ich achte auf ihre Bewegungen, sie sprechen unnatürlich liebenswürdig miteinander, als würden sie wissen, dass sie auf der Bühne sind. Ich sehe junge Männer, die tun, als wären sie schon in Theaterkulissen, wo das Interesse am anderen Geschlecht erst an zweiter Stelle kommt: erst nach der Befriedigung des körperlichen Gefühls, einen vollendeten Ton geschaffen zu haben; wo erst nach dem Liebesauftritt auf der Bühne die Liebeserklärung kommt.
Wie oft habe ich Giulia begleitet! Ich sah, wie sie sich von Anfang an wehrte, als professionelle Marionette behandelt zu werden. Ich sah deutlich ihre Torheit, mit der sie sich einbildete, die Tochter aus guter Familie zu bleiben, sich einbildete, dass sie die Leidenschaften erwecken und sie nicht nur auf der Bühne darstellen wird.
Ich erinnere mich oft an das Zimmer mit den vertrockneten Lorbeerkränzen an den Wänden, mit den Fotografien der berühmten Sänger und Sängerinnen, ich höre den hohen Ton, klar und rein, mir scheint, er vibrierte als wirbelnder Staub im Sonnenstrahl, der auf Giulias elegantes dunkelblaues Frühjahrskostüm fällt.
EIN FAST HISTORISCHES KAPITEL
Ernesto besuchte Giulia in Berlin. Er hatte ihr zuvor in einem Brief angedeutet, er komme wegen irgendeiner Angelegenheit und besuche sie dabei. Giulia zweifelte, ob Ernesto die Wahrheit schreibe. Dass Ernesto ein so wichtiger Mann sei und Pflichten ihn in die europäischen Großstädte führen – diesen Teil seiner Eitelkeit ließ sie zwar gelten; über den anderen lachte sie: Ich weiß, du kommst nur wegen mir!
Giulia kam Ernestos Ankunft gerade recht. Die Stunden bei Professor Lehmann enden und Giulia isst in der Hauptsache trockene Kartoffeln zu Abend. Der Asphalt der Berliner Straßen ist jeden Morgen feucht gesprenkelt und duftet wie eine frische Blume, deren dunkles Glöckchen hell zum Rhythmus der Pferdehufe und der heißen Auspuffgase der Autobusse läutet.
Giulia wird von Ernestos Angebot angenehm überrascht: möchte sie nicht mit ihm ans Meer fahren? Giulia hatte nichts dergleichen erwartet, und in ihrem Leichtsinn sagt sie sich, Ernesto sei doch nur »heftig verliebt« in sie.
Ich weiß nicht, ob damals, als ich sie durch die Berliner Hauptstraßen gehen sah, jemand über sie gesagt hat, sie seien ein schönes Paar. In meinen Augen ergeben sie ein schönes Paar, ihre Gedanken und Sehnsüchte gehen neben ihnen her, frisch besprenkelt wie Blumen in einem Blumengeschäft. Riechen Sie an diesem bunten, an der Ecke plakatierten Blütenstängel, an der Blüte der Musik, derDichtkunst, die jeden Tag neu in den Berliner Theatern erblüht. Riechen Sie mit mir an dieser sorgfältig vom Gärtner im blauen Overall, mit Kleisterkübel und einer großen Plakatrolle unter dem Arm, gepflegten Knospe. Riechen Sie an der von feinen jungen Damen und Herren gepflegten Knospe, die mit nobler Bewegung ihre Visitenkarte, ihr Geld, ihren Brief entgegennehmen.
Hinter dem von Efeu überwachsenen Gartengitter, im (jetzt am Morgen) leeren Bierrestaurant, träumt Margarete, ob heute Abend – wenn sie die Gläser servieren wird – der Herr, der so schöne Juwelen und Worte verschenkt, erscheinen wird. Zwischen Biergläsern, zwischen Gläsern dunklen Bieres, sieht Margarete Augen und ein Gesicht, dem sie so schnell verfällt, wie das nur Unschuld kann.
Margarete hat zwei blonde Zöpfe und alle Männer, die aus ihren Gläsern und von ihrem berauschenden Zauber trinken, sehen sie so. Sie kommen in diesen angenehm von Efeu bewachsenen, nach dem heißen Tag, wie er heute zu werden verspricht, so kühlenden Garten, um auf den Zauber Margaretes zu treffen. Den Gedanken und die Vorstellung, man könnte ihr Liebhaber sein. Einige schwitzen dabei vor Trauer und Unzufriedenheit. Alle träumen von Margaretes Anmut, von der Anmut einer Knospe, die am Morgen, beim Einatmen des Duftes frisch gesprenkelten Asphalts ihren Geruchssinn berührt hat. Die Kellner in der weißen Jacke haben sie an ihre Wünsche erinnert: Sie wünschen? Sie haben sich vorgestellt, wie Margarete sie durch einen wunderbaren Zufall gerade heute bemerken, an ihrem Tisch stehenbleibt wird. Einige fürchten fast den Gedanken, sie könnten ihre Unschuld antasten, und um dem zuvorzukommen, haben sie sich vor dem Gang insBierlokal im ehelichen Bad erfrischt. Einige auch anders, ach,
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