Bel Canto (German Edition)
mehr verderben. Sie ist für ein paar Tage ins Hotel gezogen, weil sie bei ihrer Vermieterin einen ganzen Monat hätte bezahlen müssen.
Giulia schreibt auf Papier mit dem Briefkopf des Hotels, mit stolz erhobenem Kopf: der Vater soll sehen, dass sie nicht auf ihn angewiesen ist. Sie stützt ihre schöne ringgeschmückte Hand auf die goldgeprägte Schreibunterlage aus Pergamenthaut. Auf dem Löschpapier drücken sich die großen, künstlich steilen Züge von Giulias Handschrift ab: welches Wort ist Lüge, welches Wahrheit? Das Löschpapier auf der Schreibunterlage wirft sie alsSpiegelschrift zurück, spiegelt alles umgekehrt: Giulias auf dem Glas des Waschtischchens aufgestellte Toilettenutensilien; Ernestos Zigarrenduft, den Wohlgeruch von Giulias Seife, den Duft des schweren Plüschteppichs. Dinge, die Giulia im Brief an ihren Vater verheimlicht, Dinge, die sie Ernesto verheimlicht, sich selbst verheimlicht, sind mit dem Zimmerschlüssel der Nummer 57 eingesperrt, der Zimmernummer Ernestos.
Giulia verheimlicht vor ihm ihre Befriedigung, in einem Zimmer mit einem die Schritte dämpfenden Teppich, Seidenvorhängen, roten Plüschüberzügen, Kristallblumen an der Decke, Seidenschirmen an den Nachttischlampen zu wohnen.
Sie schreibt auf Papier mit dem Hotelwappen, hält ihren blonden jungen Kopf stolz erhoben. Sie hätte es mit der Antwort nicht so eilig, wäre sie nicht genötigt, dem Vater die Änderung ihrer Adresse mitzuteilen: sie wird sich nur ein paar Tage im Hotel aufhalten. Es wäre besser, wenn der Vater ihr das Geld telegraphisch schicken würde. Giulia schuldet nämlich für die letzten vier halben Stunden Professor Lehmann das Honorar. Er hat ihr bescheinigt, ihre Stimme sei bereits auf einer Höhe, dass ihr nichts mehr widerfahren könne. Er gab ihr Ratschläge für die Rolle, in der sie auftreten wird, für sie eine günstige Gelegenheit, sich Theatererfahrung anzueignen. Der Vater kann nicht verstehen, welche Bedeutung das alles für Giulia hat. Er versteht das nicht und macht ihr wegen ein paar hundert Kronen, die nichts bedeuten und auf die Giulia letzten Endes ein Recht hat, Vorwürfe. Ja, es tut ihr leid, so mit ihrem Vater reden zu müssen, aber er hat sie dazu gezwungen: sie bittet um nichts, sie will nur, was ihr gehört.
In dem Moment, als Giulia das schreibt, ist sie überzeugt, sie hat recht, sie hat das Recht, ihre Mitgift zu fordern, sie ist überzeugt, ein Engagement für vier Wochen erhalten zu haben, in einer Rolle, die Professor Lehmann in ihren Hauptzügen mit ihr durchgenommen hat. In Wirklichkeit sagte er ihr nur, nach einem Jahr Unterricht »sitze« ihre Stimme jetzt korrekt und sie schulde ihm für die letzten vierzehn Tage drei Halbstunden pro Woche. Im Übrigen hätte sie zum Abendbrot nicht einmal trockene Kartoffeln gehabt. Die Miete blieb sie für einen ganzen Monat schuldig.
Giulia sieht sich gerade auf der Bühne:
(Una sala tappezzata di damasco) sie hört die zornigen Vaterworte:
Infame figlia!
No, padre mio …
Ihr blonder Kopf hebt sich stolz vom roten Damast ab, mit dem das Hotelzimmer tapeziert ist. Von draußen hört man Militärmusik. In hochmütiger Haltung steckt Giulia den beendeten Brief in das Couvert mit dem Hotelwappen.
Professor Lehmanns väterliche Mahnung in der letzten Stunde, die richtige Lebensführung sei für eine Sängerin gerade so wichtig wie die richtige Stimmmethode, erwähnt sie in ihrem Brief nicht. Giulia hatte dabei ebenso hochmütig den Kopf aufgerichtet wie jetzt, als sie im Geist die väterliche Mahnung hört: wollte Professor Lehmann damit vielleicht etwas über ihr Benehmen sagen?! Vielleicht hat er vergessen, aus welcher Familie Giulia kommt? Das sagte sie nicht laut, aber das alles wurde durch ihren stolz aufgerichteten Kopf ausgedrückt.
Was denkt er über sie?!
Was denkt der Vater über sie?!
Ernesto?
Hat es ihn nicht überrascht, wie selbstverständlich sie sein Angebot angenommen hatte und zu ihm ins Hotel gezogen war? Weiß er, dass Giulia in der vergangenen Woche meist nur trockene Kartoffeln gegessen hat? Ich könnte wetten, er weiß davon nichts. Nur unter ganz besonderen Umständen würde sie bekennen, dass sie sich in letzter Zeit hauptsächlich von trockenen Kartoffeln ernährt hat. Ein solches Bekenntnis würde sicher dramatisch klingen, würde sie es in den Augen der Zuhörer erheben – dann würde sie damit freilich nicht zögern.
Solche Augenblicke gab es in ihrem Leben, selten zwar, aber es gab sie. Wie
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