Bel Canto (German Edition)
bezweifelten, dass es Professor Lehmann gelingenwürde, etwas aus Giulias »Material« zu machen. Giulia zahlte ihnen das heim: sie zweifelte an der richtigen Schulung ihrer Stimmen, an der Größe ihrer Theatererfolge. Noch nach langen Jahren, wenn sie von ihnen erzählte, hat sie nie vergessen zu unterstreichen, dass ihr Abendessen ihnen damals gelegen gekommen sei. Nicht dass Giulia mit ihrer Gastfreundschaft hätte prahlen wollen, sie wollte nur zeigen, wenn ein kleines Abendessen jemandem sehr gelegen kommt, kann er keine so großen Erfolge haben. Giulia wusste das aus eigener Erfahrung.
Ich war nie in ihrer Berliner Wohnung. Bestimmt war das eine Wohnung, deren Einrichtung Giulia als Mädchen aus guter Familie zeigte. Sie stand sicher voller mitgeschleppter Sachen aus einer Vergangenheit, die sie unwiederbringlich hinter sich lassen sollte. Ich denke mir dort ähnliche Sessel wie im Salon ihrer Eltern, ähnliche wie im Vorzimmer Professor Lehmanns.
Ein paar Mal begleitete ich Giulia zu ihren berühmten Lehrern und Lehrerinnen. Unvergesslich ist mir der Moment, als ich in einem mit der Vergangenheit all der Schüler und Schülerinnen berühmter europäischer Gesangslehrer eingerichteten Zimmer saß. Ihre Vergangenheit war nicht muffig, nicht verstaubt, denn es waren durchweg junge Leute. Doch trugen alle an ihrer Vergangenheit, gerade weil sie den festen Willen hatten, alle Bande zu zerreißen: sie wollten vollendete Instrumente Professor Lehmanns werden, geeignet zur Aufführung großer europäischer Opern.
Die Vergangenheit der Töchter aus guten Familien? Diese Töchter waren bereitwillig, ihre Familien zu vergessen, alles zu vergessen, je eher, desto besser. Bevor siezu Professor Lehmann kamen, machten sie sich bewusst, dass sie alles vergessen müssen, was sie gelernt haben. Wie oft begleitete ich Giulia in dieses Vorzimmer rapider Metamorphosen des menschlichen Schicksals. Vielleicht hat mancher junge Mann auf den im Vorzimmer des Professors hängenden Bildern die Landschaft erkannt, in der er aufgewachsen war, wo er Bauer, Handwerker werden konnte – alle diese jungen Männer lernten – gleichzeitig mit den Medaillen von Königen, Herzögen, Kaisern – einen Frack zu tragen. Vielleicht erkannten die jungen Mädchen im Vorzimmer ihres Gesangslehrers die Handarbeit, die Spitze, die Stickerei, wie sie sie zu Hause in ihrer Familie gesehen hatten. Aber sie wandten die Aufmerksamkeit schnell davon ab, um sich eifrig auf ihren Atem zu konzentrieren, auf das Gefühl an ihrem Gaumen, in ihrer Kehle, in Kopf, Brustkorb, Magen, Bauch.
Wie wenig unterschied sich das Vorzimmer des berühmten Gesangsprofessors vom Wartezimmer eines berühmten Medizinprofessors. Dort herrschte dieselbe Spannung: die jungen Frauen standen plötzlich von ihren Stühlen auf, traten ans Fenster, als könnten sie die Erregung nicht aushalten, mit der sie ihr Schicksal erwarteten. Flüsternd teilten sie sich Einzelheiten mit. Die Männer bemühten sich, ihre Spannung zu verbergen, aber es gelang ihnen nicht: sie griffen sich an den Kragen, die Krawatte, griffen zum Taschentuch; es war offenkundig, sie dachten an ihre Nase, an ihre Kehle, die Stimme.
Wie oft, Giulia begleitend, sah ich, wie sich die Tür öffnete und aus der Ordination des Professors eine junge Frau mit leicht zerzausten Haaren, gerötetem Gesicht, eben mit allen Spuren einer gründlichen Untersuchung herauskam.
Wie viele Male sah ich junge Männergesichter mit den Spuren überstandener Erregung, mit erschöpftem Blick, nach dem Schal tastend, dem Mantel, diesen Schutzhüllen der Stimme, die gerade aus der Hand des Professor kam. Die Hände drehten dabei mechanisch Notenpapier: Lieder, Arien, Opern, eine Aufgabe, eine ewig wiederholte Aufgabe.
Wie viele Male saß ich in mit vertrockneten Lorbeerkränzen, mit Autogrammfotos ausgestatteten Vorzimmern, wie oft saß ich in diesen Vorzimmern des Ruhmes! Ich begleitete Giulia! Wie oft hörte ich dorthin den Ton des Klaviers dringen, die unsinnigen Töne des Do-Re-Mi-Fa-So-La-Singens, Schreie von schwindelnder Höhe, der Abbruch so plötzlich, dass sich im Vorzimmer alle anschauten. Wie oft kam danach eine junge Dame, rot im Gesicht, aus der Tür, das Taschentuch knüllend, in der Hand eine Notenrolle oder einen Heftrücken drehend. Wie oft hörte ich bis in das Vorzimmer –
Oh, rimembranza! *
Wie oft hörte ich die fortwährend wiederholten, stets reineren und reineren, zusehends klareren, ausdrucksvolleren, leichteren
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