Bel Canto (German Edition)
Mann wieder die Knauserei nicht ertragen, an die seine Frau gewöhnt ist, er könnte nicht ertragen, wie sie abends verstohlen im Hotelzimmer isst. Die Tochter fügt sich der Mutter, sie muss es, weil sie eine Begleiterin braucht, die ihre Clique zwar nie zu Gesicht bekommt, aber immer scheinbar gegenwärtig ist.
Frau Lavinias Tochter wurde auf Wunsch des Vaters in einem der teuersten Schweizer Pensionate erzogen und dort gewöhnte sie sich auch an selbständiges Auftreten. Manchmal regt sich Frau Lavinia darüber auf, dass Karla die Seidenstrümpfe völlig zertanzt. Sie denkt dabei nicht an einen möglichen moralischen Schaden, den Karla dabei erleiden könnte, sondern an den simplen materiellen Schaden, an den Verschleiß hauchdünner Seidenstrümpfe.
Frau Lavinia geht mit ihren weiten, ausgetretenen und verstaubten Schuhen neben mir, zufrieden, wieder einmal dieser kostspieligen mütterlichen Pflicht, ihre Tochter beaufsichtigen zu müssen, entflohen zu sein, und sie verspricht mir, dass wir irgendwohin auf einen Nachmittagskaffee gehen werden. Zum Glück ist der Tagesausflug für sie eine außergewöhnlich luxuriöse Angelegenheit, sie führt mich in ein Ufercafé und gestattet, mir eine Tasse Kaffee zu bestellen, mir ein Dessert mit Schlagsahne zu kaufen und sie selbst wünscht sich einen Kaffee und ein Stück Gugelhupf.
Sie sagt, dieser Ort ist bei Weitem nicht so schön wie der Kurort, aus dem wir gekommen sind. Hier sind zwar Wälder, aber am Strand statt Sand lauter Steine (wie auf der Fotografie Giulias und Ernestos). Frau Lavinia würdees hier nicht gefallen, sie wundere sich, dass Giulia und Ernesto diesen Ort gewählt hätten; sie wollten den Leuten nicht auffallen, das sei verständlich.
Wir bekamen ein Tischchen am Terrassengeländer – neben Frau Lavinias Ellbogen duckte sich, wetterhart und durch Salzluft und Wind verkrümmt, eine Pelargonie, als ob sie Frau Lavinias Worte bekräftigen würde: ihr würde es hier nicht gefallen: schauen Sie sich die Felsen an. Wenn es hier Regen gibt, wäre es trist.
Ich will Frau Lavinia nicht mehr hören, ihr Clownsgesicht nicht mehr sehen, die heiter gestimmten Besucher, die Ausflügler, die Kinder, die beim Heimweg auf dem Dampfer alles erbrechen, was sie hier genascht haben. Ich will das überpuderte Gesicht nicht sehen, die komisch angemalten Augenbrauen. Frau Lavinia ist so sparsam, dass sie sich die Augenbrauen mit angerußtem Kork schwärzt.
Ich will ganz allein den Ort sehen, wo Giulia und Ernesto waren, will den sonnigen Tag sehen (wie heute), als Giulia am hiesigen Ufer mit Ernesto von einem der Fotografen, die hier auf Schritt und Tritt anzutreffen sind, ein Foto machen ließ, bei jedem Schritt sehe ich die Vitrinen mit den Portraits all der Ernestos und Giulias. In einer dieser Jahrmarktsbuden – von denen man nicht weiß, ob sie die Kleider des Clowns verbergen oder ein fotografisches Atelier – war ihr Bild entwickelt worden.
Das Foto zeigt einen grauen Tag, an dem es hier sicher trist ist, wie Frau Lavinia richtig gesagt hat. Dabei liegt der Duft von Meeresveilchen in der Luft, ein großes Bouquet davon trägt Giulia am Gürtel. Ich glaube, diese Art ist in keiner Naturkunde beschrieben, vielleicht wächst sie wirklich nirgendwo – das Meeresveilchen – violamaritima – wächst am Meeresufer, an feuchten kalten Tagen, die Farbe seiner Blüten spielt vom fast durchscheinend Violett (durchscheinend wie Giulias Schal), bis ins schwere, zum Violett übergehenden Grau der Basaltfelsen. Die Blütengestalt verwandelt sich mit der Wolkenform: Meeresschäume. Dieser Veilchenduft wird von Tausenden Schaumbläschen gesalzen und oxydiert und durch den millionenfachen Duft, vom tausendjährigen Basaltgöpel zermahlener Lebenskeime, beschwert. Viola maritima! Mit Adern, die nur in Tropfen des weiten Meeres sichtbar sind; dann ist der Verdauungs- und Fortpflanzungstrakt von viola maritima, dem Meeresveilchen, zu sehen. Sein Wohlgeruch wird in Regentropfen versprüht (die hier sicher so trist sind, wie Frau Lavinia sagt), sie fallen auf den Tisch, an dem mein Freund hier Kant liest, gekauft auf der Leipziger Messe. Nie werde ich begreifen, warum er gerade die Leipziger Messe besuchen musste, um Kant zu lesen. Ich begreife die Verkettungen des menschlichen Schicksals nicht, gehe nur in seiner Spur. Ich habe mich von Frau Lavinia losgerissen und folge der Spur von viola maritima, laufe über das Geröll, auf dem Giulia und Ernesto standen. Weil es regnet,
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