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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milada Součková
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Leuchtturm habe ich Karla nicht mehr gesehen. Mit Frau Lavinia ging ich aber noch einmal am verlassenen Musikpavillon vorbei, an den kleinen verlassenen Sesseln in der Sonne. Frau Lavinia standen über den sorgfältig gezogenen Augenbrauenstrichen feine Schweißtropfen.
    Der Musikpavillon spielte einen Marsch, bei dem Herr Kugler die Musik mit einem Rhythmus begleitete, den er selbst komponiert hatte:
    Bins ta ta, bins ta ta, bins ta ta
    Bins ta ta, tra ra ra, raaaaaaa.
    Das seien Triolen im Viervierteltakt, die mit einer halben Note abschließen. Herr Kugler trommelte die Silben und war stolz darauf, wie sie mit der Notenlänge harmonieren. Lachen Sie nicht, in den Silben stecke ein Spiel mit dem Namen des Seebades:
    Bins ta ta, bins ta ta, bins ta ta
    Bins ta ta, tra ra ra, raaaaaaa
    singt Herr Kugler und begleitet Frau Lavinia auf der Promenade: Hören Sie, sie spielen schon wieder Binstata! Sie können nichts anderes als ihr Binstata, sehen Sie sich den Kapellmeister an, was für ein Kerl! Frau Lavinia kann sich ein Lachen nicht verkneifen, sie weiß, es ist unanständig, so zu lachen, sie lacht, bis sie das Taschentuch hervorholen muss.
    Herr Kugler ist aber schon abgefahren und Frau Lavinia hat diesmal sorgfältig gezogene Augenbrauen. Ich begleitete sie ins Kurhaus, wo wir uns eine neue, den Kriegszustand betreffende Verordnung anhören sollten. Ich sehe Frau Lavinia in dem großen weißen Stucksaal, voll Sorge, nicht auf ihren Mann gehört zu haben, der ihr telegrafiert, hatte, sie solle gleich nach Hause zurückkommen.
    Sie schiebt es auf Karla, in Wirklichkeit bleibt sie, weil sie die Miete bis Monatsende bezahlt hat.
    Sie war so verstört, dass sie am Morgen vergaß, die Augenbrauenstriche zu ziehen. Sie versicherte mir, sie hätte die ganze Nacht mit Karla auf dem Gepäck gesessen (Karla kam wie gewöhnlich erst spät in der Nacht). Frau Lavinia erwartete das Eintreffen einer zusammengewürfelten Bande, meist Russen und Polen, die man im Nachbarbezirk zur Ernte gemietet hatte und die jetzt mit Sensen herumziehen und plündern, was sie greifen können, niemand wage in diesem Chaos, sich zur Wehr zu setzen. Frau Lavinia erfuhr das gestern Abend in dem Geschäft, wo sie die Schinkenknochen verkaufen (es reicht für zwei Personen zum Abendessen), im Milchladen, im Feinkostgeschäft (wo ich die Schachtel Kekse gekauft hatte), im Geschäft, wo der geräucherte Dorschverkauft wurde – überall sagte man das gleiche: Von der östlichen Grenze kämen Banden mit Sensen – Schnitter nennt sie Frau Lavinia, so nannte man sie in den Geschäften, wo sie gestern das Abendessen auftrieb: Schnitter . In Furcht vor ihnen verbrachte sie die ganze Nacht auf dem Gepäck sitzend. Karla versuchte vergeblich, sie ins Bett zu bringen. Sie kam spät nachts zurück und ist jetzt wieder auf dem Bahnhof, um einen Bekannten zu verabschieden, der die Einberufung zum Regiment erhalten hat.
    Das Tageslicht erlöste Frau Lavinia zwar vom Schrecken vor den »Schnittern«, dafür hört sie im Geist die Vorwürfe des Ehemanns. Mit Bangen erwartet sie die Rede des Bürgermeisters. Sie meint, das ihr vom Ehemann geschickte Geld würde nicht ausreichen und sie müsse zu Fuß nach Hause. Sie, die nicht einmal auf den Leuchtturm steigen konnte! Karla hat sie ausgelacht, so ein Unsinn. Die einzig berechtigten Ängste sind für Karla die väterlichen Vorwürfe. Karla ist mitschuldig: Sie wollte nicht nach Hause, weil es nicht geht, sich plötzlich von allen, die abreisen, zu verabschieden. Karla weiß, die Mutter bleibt nicht wegen ihr, sondern weil sie bis Monatsende bezahlt hat.
    Die Rede des Bürgermeisters im weißen Stucksaal (hat Karla hier nicht die hauchdünnen Seidenstrümpfe zertanzt?) hat Frau Lavinia beruhigt: Es drohe keine Gefahr vom Haufen der »Schnitter«. Der einzige unwiederbringliche Verlust wird die im Voraus gezahlte Miete sein. Sie wird nicht zu Fuß nach Hause gehen, sie wird mit dem Zug fahren, der Verspätung haben und Militärtransporte treffen wird, auf deren Waggons mit Kreide geschrieben steht: nach Westen, nach Paris, nach Osten. Daneben: 44 Pferde, 28 Mann.
    Ach, Frau Lavinia! Sie hat völlig Ernesto und Giulia vergessen. Auch für mich war ihre Geschichte für mehrere Jahre vom historischen Verhängnis der ZEIT verhüllt.

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