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Bel Canto (German Edition)

Bel Canto (German Edition)

Titel: Bel Canto (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milada Součková
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und so würdevoll hoch war, dass sie für weniger feierliche Gelegenheiten noch einen kleineren Flügel für den normalen Gebrauch hatte.
    Denn dieses Haus in Paris, in Berlin, in Prag (in der Vladislavgasse) ist nicht mehr dazu da, der Menge eine berühmte Person auf dem Balkon vorzuführen. Sie hat ihre vornehme Uniform abgelegt, deren Reste immer noch in Kanzleien und Werkstätten getragen werden – hinter Fensterscheiben bewegen sich zierliche Figuren, andere sind unten auf der Straße, einige von ihnen betreten das eindrucksvolle Haus. Am Eingang sitzt ein Bettler und hält ein Kistchen im Schoß, in dem sich mittels einer Kurbel Figuren bewegen. Wir halten das nicht für ein Gleichnis von der Welt.
    Was bewegt er mit diesen Figuren? Den Mechanismus ihres Organismus, den Gedankenmechanismus –
    In diesem Augenblick bedeutet das Grab Napoleons der Welt weniger als die Welt eines jungen Mannes oder Mädchens, deren Lungen gerade die Luft der Großstadtstraße ausgeatmet haben.
    Ernesto Oliva träumte von Napoleon, träumte, dass er auf dem Balkon stehe, wenn auch, wie ich ahne, in einer unbedeutenderen Rolle. Der unrealistische Ehrgeizerscheint uns wie eine Parodie von Erhabenheit, und doch ist er genauso lebendig wie der erfolgreiche. Dieser unrealistische Ehrgeiz, der im Geist auf einem Balkon in Paris, in Rom, in Berlin erscheint.
    Napoleon, in seinem Grabmal ruhend, hat nicht gewartet, bis Ernesto Olivo seine Idee annehmen wird, ihn lässt es kalt, vergöttert zu werden. Ach, welch tiefe Gleichgültigkeit empfindet er gegenüber seinen Bewunderern!
    Ich spreche ihn an: »Napoleon!«, aber er hört nicht; es scheint ihm selbstverständlich, nicht mehr Napoleon zu heißen, es liegt ihm nichts mehr daran, Napoleon zu sein, zur Idee geworden zu sein, zur Idee unzähliger junger Menschen. Er fühlt nicht mehr, dass er groß ist, wenn Schulkinder seinen Namen aussprechen; nur das Rot der Morgenröten, nur die Ideen weniger Geister ziehen seine Aufmerksamkeit an – er heißt schon nicht mehr Napoleon. Heißt er vielleicht Ernesto Olivo? Ernesto Olivo, der sein Bild über dem Bett aufgehängt hat? Wer ist Ernesto Olivo? Niemand.
    Der Name Napoleon lehrt uns, wie aus einem unbedeutenden Menschen ein Mensch der Geschichte werden kann. Napoleon sagt unter seinem Grabmal: Ich heiße nicht Napoleon, ich lebe nicht. Ich lebte durch Ideen und Taten, sie verliehen mir den Namen Napoleon, diese Ideen liebte ich über alles.
    Ich kenne Ernesto Oliva nicht, kenne nicht seine Gedanken, wenn er ›Napoleon‹ sagte. Ich kenne nur meine Ideen und Taten. Ich weiß, sie sind unsterblich: jeden Augenblick können sie aus der Straßenluft in Paris, Berlin, Rom, Mailand in die Lunge eines jungen Mannes geraten. Sie werden in seinem Blut kreisen, seinen Vorstellungen, seinen Schritte, seinen Taten. Dann werden sie dieSchritte und Bewegungen der Menschen in Rom, Paris, Berlin, Prag beschleunigen. Sie werden neue Denkmäler bauen, neue Straßen, werden Leute unter Balkonen, auf Straßen, auf Plätzen versammeln.
    Beweist mir nicht, dass ich Napoleon heiße, zeigt mir nicht mein Grabmal auf dem Titelblatt der gerade erschienenen Zeitschrift. Ich heiße nicht mehr Napoleon, kenne meine Gestalt nicht; die Ideen und Taten, die ihr mit meinem Namen verbindet, sind mit mir gestorben, ihr bezeichnet sie mit meinem Namen, ihr achtet auf sie, weil sie Teil meines Lebens waren, sie bleiben für mich, was sie für einen toten Menschen sind: seine Wäsche, seine Kleider. Und die Zurückbleibenden sagen: das sind seine Halsbinden – das sind seine Ideen. Sie waren es, ja, sind es aber nicht mehr. Sie sprechen zu uns, weil sie von ihm hinterlassen worden sind, sagen die Verehrer des Toten. Ich spreche nicht zu euch, antwortet Napoleon, zu euch sprechen nur Ideen, die mir nicht mehr gehören. Ich heiße nicht mehr Napoleon, ich erinnere mich auch nicht an das Haus, das ihr mir zeigt. Das Haus in Paris, in Mailand. An den Balkon mit den hohen Türen.
    Dort sind ein paar Kanzleien, ich sehe dort Leute arbeiten, gehen, sich bewegen, sprechen, denken – ich sehe zugleich diesen Bettler am Eingang, der im Schoß das Kistchen hält, die Kurbel dreht und die kleinen Figuren bewegt.
    Ich heiße nicht Napoleon. Ich kenne Ernesto Olivo nicht, ich interessiere mich nicht für die mit meinem Namen verbundenen Denkmäler. Ich lebe nicht in den täglichen und romantischen Vorstellungen des bürgerlichen Gesetzbuches. Ich lebe in Paris, in Berlin, ich erinnere

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