Bel Canto (German Edition)
Schreiben Sie nur mit Tinte! Mit Tinte, wie Sie einen Wechsel, eine Postanweisung schreiben, damit kein Irrtum möglich ist, Achtung! Schreiben Sie mit Tinte! Schreiben Sie nicht mit Rotstift!
Sparen Sie weder Zeit noch Mühe und beantworten Sie die Fragen in Ihrem eigenen Interesse genau und wahrheitsgemäß! Geben Sie den ausgefüllten und unterschriebenen Fragebogen bei der ärztlichen Untersuchung ab! Der Fragebogen dient ausschließlich dem Arzt zur allseitigeren Beurteilung ihrer Gesundheit.
Ledig, verheiratet (zum wievielten Male)?
Verwitwet, geschieden (zum wievielten Male)?
Für Giulia wäre es schwierig, diesen Fragebogen wahrheitsgemäß auszufüllen. Denn sie ist gleichzeitig ledig, verheiratet und geschieden. Und wie sollte sie wissen, an welcher Krankheit und in welchem Alter die Mutter der Mutter, die Mutter des Vaters gestorben ist?
Sind oder waren unter den Geschwistern oder Verwandten Sonderlinge, Auswanderer, Erfinder, Spiritisten, Hellseher oder auffallende Talente?
Giulia erinnert sich nicht, in welchem Alter sie zu laufen anfing und zu sprechen.
Litten Sie an »Kinderunarten« wie Nägelkauen, Nasenbohren, Weinerlichkeit u. a.
Trinken Sie Alkohol? Grundsätzlich abstinent, gelegentlich, mäßig, regelmäßig, wie viel?
Giulia trinkt gelegentlich, mäßig, regelmäßig, wie viel? Giulia?
Treiben Sie Sport? Ja, nein, welchen? Welchen Sport betreiben Sie am liebsten? Belebt Sie der Sport?
Wie sollte Giulia nicht der Gedanke beleben, wenn Anselmo sie durch den Zaun des Tennisplatzes sieht?! Gern zeigte sie sich im weißen Rock und in weißer Bluse, mit dem Tennisschläger; gern zeigte sie die Bewegungen ihres schönen und anmutig geschmeidigen Körpers.
Sie vergnügte sich gern beim gemischten Doppel. Sah gern, wie sich die Wirkungen des Spiels im Blick ihres Partners zeigen. (Bis heute fragt mich ein Olympiasieger: »Was macht Giulia?«)
Was fürchten Sie am meisten?
Wonach sehnen Sie sich am meisten?
Haben Sie ein musikalisches Gehör?
Haben Sie Erfolge?
Sind sie dem anderen Geschlecht gegenüber schüchtern?
Nein, Giulia würde über diese Fragen nicht lachen. Sie würde eine wichtige Miene aufsetzen und vermuten, es gehe um ein wissenschaftliches Problem, würde entsprechend antworten, allerdings völlig frei erfunden und unwahr, ihrer Meinung nach aber ungewöhnlich wahrheitsgetreu. Persönlichkeit, sie sagt: Individualität, würde dabei eine große Rolle spielen. Ein Fragebogen von Industrieunternehmen erfordere keine Persönlichkeit.
Giulia ist eine gesunde und erfahrene Frau, und würde uns nur die Wahrheit sagen, die sie möchte.
Wie oft waren sie schwanger? Bisher nicht, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 Mal?
Unterstreichen Sie die Krankheiten, an denen Sie schon litten:
Tripper
Lungentuberkulose
Gelenk- und Knochentuberkulose
Brustfellentzündung
Bronchialkatarrh
Lungenentzündung
Herzfehler
Nierenentzündung
Masern
Scharlach
überstandener Keuchhusten
Windpocken
Diphtherie
Rachitis (Engelskrankheit)
Ohrentzündung
Gelenkrheumatismus
Schädelverletzungen
Syphilis
Zuckerkrankheit
Trachom
Gallen-, Nierenstein
Hautausschlag
Giulia ist fast nie krank. Sie hatte allerdings immer anfällige Stimmbänder und ich erinnere mich, als ich sie in Wien besuchte, hatte sie einen tüchtigen Schnupfen, sie sagte: Influenza. Sie erzählt auch von ihrer Lungenentzündung, mit der sie in einem New Yorker Krankenhaus lag. Fallssich das noch einmal wiederholen sollte, würde Giulia das nicht überleben. So erzählt sie wenigstens. Sie glaubt nicht wirklich, sie hätte eine schwache Gesundheit, nie schont sie sich und ich war ein paar Mal Zeuge, wie sie ihre »Influenza« mit Fieber bekam.
Ist Ihr Gebiss in Ordnung?
Unterstreichen Sie die richtige Antwort! Hatten Sie irgendwann Krämpfe? Sind Sie nervös? Befällt Sie oft und grundlos traurige Stimmung?
Falls Giulia sich einbildet, sie würde mit der Schilderung ihrer traurigen Stimmungen den Zuhörer beeindrucken, bezweifeln Sie es nicht, sie wird gewöhnliche traurige Stimmungen haben, wie alle anderen Leute auch. Dabei wird sie nicht einmal lange überlegen und wählen müssen.
Der Moment, als sie ohne einen Heller dastand, als sie nichts zu essen hatte; als ihr Schmuck, ihre Pelze, ihre Teppiche verkauft waren. Als sie ihre Wiener Wohnung verließ. Traurige Stimmung?
Als sie zum Abendessen trockene Kartoffeln hatte, um eine Gesangsstunde bei Professor Lehmann bezahlen zu können. Als sie bei Ronacher auftrat
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