Bel Canto (German Edition)
Schnee, der in dünner Schicht auf Walmdächern liegt, mit anderen Worten: Das ist keine Stimmung, entstanden aus ein paar Tagen ihrer Kindheit und Jugend, das ist nicht der Schnee ihrer Erinnerung und Vorstellungskraft.
Umständehalber wohnte sie während ihres damaligen Pragaufenthaltes bei Freunden, vor deren Haus auf dem Platz ein Weihnachtsbaum stand. Können Sie sich vorstellen, wie begeistert Giulia am ersten Tag war? Als ich mich mit ihr traf (damals waren wir täglich zusammen), sprach sie über nichts anderes – an dem Tag schneite es gerade – als über den Weihnachtsbaum, über die Weihnachtslieder, die man aus einem Radio unter dem Baum hörte oder die von Schallplatten abgespielt wurden. Die dafür geschaffene Dekoration stand damals fast einen Monat. Aber schon nach einer Woche gestand mir Giulia, das unablässige Abspielen der Weihnachtslieder mache sie völlig verzweifelt. Nach zwei allein zu Hause verbrachten Abenden musste sie sogar Beruhigungstabletten nehmen und das nächste Mal den größten Teil des Wermuts trinken, den sie für Gäste bereithielt.
So würde der Großteil an Poesie aussehen, würden wir ihre Kulissen überbeanspruchen oder ihre Wirkung überschätzen. Deswegen habe ich nicht in der oben eingeführten Art begonnen, die mir auch gefallen würde.
Wie sieht also Wirklichkeit aus? Würden Sie von mir mehr davon verlangen, könnte ich nur eine andere Kulisse zeigen, die Volkes Stimme, Gestalt und Schicksal meiner Meinung nach wahrheitsgemäßer und wirkungsvollerwiedergeben würde. Der Schnee, der dabei fällt, ist nicht der Theaterschnee der Poesie, es ist der auf dem Asphalt tauende Schnee, gleichgültig wo: in Prag, in New York. Ja, das ist wirklicher Schnee, durch den hunderttausend Leute stapfen, durch den Sie mit hunderttausend anderen in Prag stapfen, durch den Giulia in Berlin stapfte.
Ja, das ist der Schnee, der die Sohlen durchnässt und die Anschlagzettel nass macht, künstlichen Schnee gibt es in den New Yorker Schaufenstern, in Wien, Paris, in Prag. Wann immer ich sehe, wie es im Schaufenster auf Pelze, auf Kleider schneit –
sehe ich Giulias Schrank voller teurer Pelze, sehe ich –
nein, das blaue Taftkleid, von dem mir Giulia einen ganzen langen Nachmittag erzählte, sehe ich nicht: Es war aus einem Kaufhaus, angeblich aber eigentlich ein französisches Modell; sie erzählte, welchen Putz sie dazu nimmt, beschrieb mir lange, wie dabei ihre Figur hervortritt. Wie könnte ich dieses Kleid, das ich nie zu Gesicht bekam, vergessen, obwohl Giulia es in Prag trug, und mir erzählte, welche Aufmerksamkeit sie erweckte, und Giulia – wie gar nicht anders möglich – darin die bestangezogene Dame in der Gesellschaft war.
Das Kleid bekam ich nicht zu Gesicht. Jedes Mal aber wenn ich über den Asphalt gehe, auf dem der von hunderttausend Sohlen breitgetretene Schnee taut, jedes Mal wenn ich den Schnee im Schaufenster mit der Billigkonfektion sehe, sehe ich das blaue Taftkleid, von dem ich so viel hörte, es aber nie sah, weil ich Giulias gesellschaftlichem Auftritt auswich.
Immer, so oft ich Schnee und den Schimmer falscher Edelsteine an einer Billigkonfektion sehe oder denblendenden Glanz tausender Volt im Schaufenster mit wertvollen Pelzen, sehe ich immer den Schrank voller teurer Pelze; bei meinem Besuch in Wien öffnete Giulia ihn vor mir einmal, später verkaufte sie daraus Stück für Stück. Immer sehe ich das blaue Taftkleid, das ich nie zu Gesicht bekam. So oft ich, wie hunderttausend andere, durch den Schneematsch auf dem Asphalt stapfe, immer erinnere ich mich, wie mir Giulia erzählte, ihr sei es eine Zeit in New York so elend gegangen, dass sie nur vom Nähen für Antiquitätengeschäfte gelebt habe.
Als sie davon erzählte, wagte ich nicht, sie zu unterbrechen, und so weiß ich nicht, ob Giulia die Decken aus den Messgewändern, die ich oft in ihrer Wiener Wohnung sah, nähte. Oder war das nur gewöhnlicher Brokat, aus dem sie Messgewänder, Zierdecken, Kissen für die Antiquitätengeschäfte (bestimmt mit vielen Fälschungen) nähte, deren Preis, weil aus alten Messgewändern gefertigt, höher sein sollte?
Wie merkwürdig, dass Giulia auch in Augenblicken ihrer wirklichen Tragödie (denn hungern zu müssen ist tatsächlich ein Unglück), wo andere Frauen sich vielleicht durch Nähen von Handschuhen oder Miedern, Maschineschreiben, Sprachunterricht oder Prostitution ernähren würden – dass Giulia in diesem Augenblick Messgewänder zerschneidet
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