Bel Canto (German Edition)
Straße, durch Dreckpfützen rollen im gleichen Rhythmus wie auf den Hauptstraßen Räder; nur hier so, als ob der Ton aus tausend anderen, ähnlichen, identischen zusammengesetzt wäre; es scheint, dass man hier anders sieht, anders hört, nicht ganz gesunde Leute könnten im schmutzigen Schnee oder im feinen Staub Kodein und Brom vermuten.
In Paris ist das Kino irgendwo am Montparnasse, in das ich gehen werde, um mir den von Loeven empfohlenen Film »Die grünen Weiden« * anzusehen. Loeven ist einer der Freunde, die Jahre entfernt von Ihnen in einer der europäischen Städte leben können und Sie nicht vergessen. Immer sind sie bereit, allen Freundespflichten Ihnen gegenüber nachzukommen.
Ich weiß nicht mehr, warum ich den Film »Die grünen Weiden« nicht gesehen habe; sein Held ist für mich wie Loeven, mit seinem Hinkefuß, seiner Kahlheit, der Brille, seiner zuverlässigen und aufopfernden Freundschaft.
In einem solchen Nebenstraßenkino lief auch der einzige Film mit Giulia in der Hauptrolle, den nur dieBewohner des Viertels gesehen haben, er lief nicht länger als eine Woche; er war wirklich ganz schlecht; ich erinnere mich nur noch, dass Giulia im Bett lag, in Spitzen gehüllt, durch die Licht fiel, genau wie durch ihre blonden Haare. Das Objektiv hat ihre Nase gerade in dem Moment boshaft zu einer Hexennase entstellt, als sie die Hand nach einem neugeborenen Kind ausstreckte, von dem ich nicht mehr weiß, welche Rolle es im Film spielte. Jeder wird sich vorstellen, das sei ganz leicht; doch solche Möglichkeiten gibt es nicht viele, man kann sie an fünf Fingern abzählen.
Komme ich in einer Berliner Nebenstraße an einem abgelegenen Kino vorbei, werde ich immer wieder an Giulias einzigen Film erinnert, von dem ich annehme, dass er von ihrem damaligen Liebhaber finanziert worden ist. Wahrscheinlich hatte er ein Happy End. Wenn ich Giulias entstellte Nase vor mir sehe (und im Alter stellt sich diese Gelegenheit häufiger ein), begreife ich, der Film konnte nur durchfallen: eine Frau mit so einer Nase, der Nase einer Hexe – findet nicht das Herz der Zuschauer, nicht einmal das Wohlwollen des Schicksals – auch wenn man sie gegenüber der Wirklichkeit entstellt hat. Es war übrigens eine der ersten europäischen Stummfilmproduktionen.
Jedes Mal wenn ich in einer Nebenstraße ein entlegenes Kino sehe und in großen Lettern seine Aufschrift vor Augen habe, lese ich sie nicht; ich setze aus den Lettern unbekannte Wörter zusammen, lebendige unbekannte Wörter, die Lebensgeschichten erzählen. Das ist weder Giulias Schicksal, noch das Schicksal des Mädchens, das mir gerade entgegenkommt, die Lettern ergeben keine bestimmten Wörter, klar, dass das nicht so sein kann. Sobald die Lettern wortähnliche Silben bilden würden wie:WEIDEN oder DIE GRÜNEN, wüsste ich, ich stehe vor dem Kino auf dem Montparnasse, gehe auf Loeven zu, der mich willkommen heißt: »Vous êtes bien en retard, mon ami!« oder »Vous arrivez à l’heure!« Loeven hält nämlich seinen Freunden gern Unpünktlichkeit vor, weil er selbst so peinlich pünktlich ist. Er spricht gern französisch, um zu zeigen, wie perfekt er im Französischen ist. Er erklärt lange seine Beziehung zu jemandem, um dann zu schließen: »Vous savez, un rendez-vous avec lui, c’est un horreur! Il est toujours en retard.« Ich weiß, mir ist er auch deshalb zugeneigt, weil ich meistens pünktlich komme, zu der von ihm bestimmten Zeit.
Er erzählt mir von seiner erotischen Beziehung zu einer Zahnärztin, die ihn gerade behandelt. Das sind auch Grüne Weiden – eine seltsame Mischung aus der kleinlichen Ordnung in Loevens Atelier und mir zweifelhaften Gefühlen, die plötzlich in Worten, in Aufschreien zum Ausbruch kommen.
Loeven zeigt mir eine Negermaske, die er auf einem foire de puces entdeckt, selbst gesäubert und hergerichtet hat. Er zeigt mir Schnitt und Maß einer grünen Lederweste, die er sich vor langer Zeit wünschte und die er sich endlich anschaffen wird. Er folgt mit seinen grünen Augen, durch starke Gläser vergrößert, allem, was ich sage, als würde er fürchten, ich spräche eine falsche Meinung aus.
Wenn ich durch eine Seitenstraße gehe und mir das Plakat eines entlegenen Kinos ins Auge fällt, sehe ich Lettern, fragmentarische Worte kreuzen sich, grün gefärbt, wie Loevens Weste; die Lettern breiten sich aus, bilden den Raum der Grünen Weiden, der nie gesehenen Grünen Weiden, belebt durch Gestalten von Loevens Typ, mitseinen
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