Bel Canto (German Edition)
oder sie aus gewöhnlichem Brokat nachmacht und sich die Finger blutig sticht, an einer einst von Hunderttausenden, von Millionen verehrten Kulisse, aus der sie Schmuckartikel für eine moderne gesellschaftliche Einrichtung näht.
In diesem Moment benimmt sich Giulia tapfer, bemüht, nicht hungers zu sterben. Ich hätte nie gewagt, sie in jenemflüchtigen Moment, in dem ich ihre Offenheit spürte, auszufragen; ich wagte es nicht, es erschien mir rücksichtslos, und als der Moment vorüber war, wusste ich, meine Frage wäre unnötig gewesen. Giulia hätte sich bestimmt mit einer Geschichte über Messgewänder beholfen, die sie womöglich in allergünstigstes Licht gestellt hätte. Allerdings habe ich in ihrer Wiener Luxuswohnung oft ein Messgewand gesehen. Möglicherweise war das bei Giulia pure modische Vorliebe »für Altertümer«. Ich würde das aber so auslegen, dass Giulia die Vorliebe für alte Messgewänder von Ernesto übernommen hat. Ernesto begeisterte sich natürlich nur für den Renaissancestil. Aber was war für Giulia der Unterschied zwischen einem Renaissance- und einem Barockmessgewand? Für Giulia bildeten Alexander der Große, Napoleon und Ernesto eine Geschichte! Lachen Sie nicht über Giulias Unbildung; auf ihre Art ist sie der allgemeinen Wahrheit näher, als einer, der unangebracht zwei Belanglosigkeiten vermischt. Wie es mit dem großen Streit auch sei, so oft Schnee auf dem Asphalt, von hunderttausend Sohlen breitgetreten, taut, folge ich der von Giulia erzählten Geschichte, der Geschichte hungriger Finger: sie zerschneiden Messgewänder, nähen aus Brokat Decken zusammen, Kissen.
So oft hunderttausend Sohlen den nassen Schnee breittreten, Hunderttausende Schuhsohlen vor Hunderten und Tausenden Paaren Schuhe stehenbleiben, vor der Schaufensterkulisse, die mit den tausend Volt falscher Juwelen leuchtet, denke ich an die hungrigen Finger: sie zerschneiden die wertvolle altertümliche Kulisse eines Messgewandes, sie nähen aus Fabrikbrokaten unechte Messgewänder, Kissen und Decken für Antiquitätengeschäfte.
Unechte Leuchter erhöhen unechte Wachskerzen. Ich gehe über nassen Asphalt, breitgetreten von tausend Schuhsohlen, die stehenbleiben, die feucht gewordenen, durch den Schnee fliegenden Anschlagzettel zu lesen. Dann sehe ich Giulia, die den Leuchter aufhebt, Giulia in der Rolle des Rosenkavaliers, so wie auf dem Foto, das sie mir widmete.
Sie tritt im Brokatfrack des Rosenkavaliers vor die Rosenkavalierkulisse der Theater in Berlin, in Prag, in Mailand, in Paris, in New York.
Der Leuchter strahlt mit tausend Volt, leuchtet mit den kleinen Glühlampen der Blutkörperchen, durch die ein geheimnisvoller Strom fließt, dem –
keine Nacht lang genug ist,
ich kenne keine größere Glut und keine Lichter über diesen Strom, der, Spannung erzeugend, mit den roten Lämpchen der Blutkörperchen leuchtet – dem Einatmen und Ausatmen, dem keine Nacht lang genug ist –
Giulia hebt den Leuchter, ihre schlanke hohe Figur steckt in Atlashosen, aus ihrem Brokatärmel ragen Spitzen. In diesem Augenblick überwältigt jeden die Neugier, jeden dieser hunderttausend, die in Berlin, in Paris, in Prag den Schnee breittreten. Dieser in Lächeln, Gesang, Liedern verborgene Augenblick.
Giulias Blick bleibt erstaunlicherweise rein, es ist der Blick ihrer achtzehn Jahre. Wie ist das möglich, fragen Sie, nach ihren Erfahrungen? Ich weiß es nicht. Ich rede nur darüber, was ich sehe: den Blick einer Achtzehnjährigen. Mit diesem Blick ging Giulia durch die Wohnung Doktor Zages, der, erinnern Sie sich, von ihrer Unschuld überrascht war.
Der Szene, die sich damals abgespielt hat, kann man nicht die Schönheit des Moments geben, wenn der Rosenkavalier vor die Kulisse tritt, in Atlashosen, mit einem Leuchter in der Hand, im leichten Seidenhemd, über dem er einen Brokatfrack trägt. Die Szene muss man so schildern, wie sie sich in Wirklichkeit abgespielt hat, verstehen Sie, das wäre bestimmt leicht, zusammen würden wir das zustande bringen, unsere Erfahrungen sind annähernd die gleichen; wir wissen etwa, mit kleinen Varianten, was sich abgespielt hat, es geht nur darum, die Szene darzustellen und hier beginnt die Kunst!
Giulias Blick überrascht mich, der Blick einer Achtzehnjährigen, ein Mädchenblick über Seidenhemdspitzen unter dem Brokatfrack. Wenn auch Giulia altert, ihre Augen kurzsichtig werden – sie würde das nicht eingestehen; ich wusste nicht, dass sie schwache Augen hat, und kam nur
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