Bélas Sünden
Er bekam einen ausgegeben, aber damit hatte es sich auch. Ob ich glücklich war? Ja, das war ich. Monatelang war ich restlos glücklich und zufrieden. Sogar Sonja schien einzusehen, dass der Mensch nicht zum Alleinsein geschaffen ist und man für die wahre Liebe gerne den einen oder anderen Preis zahlt. Sie lebte praktisch immer noch die meiste Zeit bei den Böhrings. Manchmal kam sie am Nachmittag vorbei und erzählte mir wie in alten Zeiten von den wichtigen Arbeiten in der Schule. Inzwischen hießen einige Klausuren, andere Referate, dann gab es noch Tests, und für alles gab es Einser, nur wenn es schlecht gelaufen war, eine Zwei. Aber das waren die Ausnahmen. Schlecht gelaufen war es auch immer nur, wenn Sonja wieder einmal die halbe Nacht nicht hatte schlafen können. Bei Böhrings wurde zwar nicht mehr lautstark gestritten. Aber es brodelte ständig unter der Oberfläche wie in einem Vulkan. Zwei feindliche Lager gab es. Auf der einen Seite Meta mit den beiden Jüngsten, auf der anderen Seite Heinz mit der Ältesten. Des Ausgleichs und der gerechten Verteilung wegen hätte Sonja sich auf die andere Seite schlagen müssen. Das sah sie nicht ein. Und dann stritten nachts nicht Heinz und Meta ums Geld, sondern Sonja und Marion darüber, wer welche Rechte hatte und welche Pflichten.
»Eines Tages «, erzählte Sonja, »will Marion mit ihrem Papa nach Amerika abhauen. Die halbe Nacht hat sie mir erklärt, dass sie dort leben werden wie ein Liebespaar. Sie ist bescheuert, Mama, aber in dem Alter.«
Zu der Zeit war Marion dreizehn. Ich traf sie hin und wieder zufällig in der Stadt. Ein paar Tage vor dieser Unterhaltung mit Sonja hatte ich sie noch gesehen. Groß und dürr, mit Lippenstift, der so dick aufgetragen war, dass sie wie ein Clown aussah. Sie hielt eine Zigarette in der Hand, die sie bei meinem Auftauchen noch rasch zu verstecken suchte. Mit der freien Hand winkte sie eifrig zu mir herüber und rief quer über die Straße:
»Hey, Lisa!«
Sie setzte ein Lächeln auf, von dem ich nicht wusste, ob es verlegen oder schuldbewusst war, und brüllte ihrem Gruß die saloppe Feststellung hinterher:
»Sieht man dich auch mal wieder!«
Sie hatte mir Leid getan, entsetzlich Leid. Am liebsten hätte ich sie in die Arme genommen. Da war noch so viel Kind an ihr, und sie versuchte, mit aller Gewalt erwachsen zu wirken, nicht mehr nur Papas Große zu sein, sondern die Frau, mit der er reden konnte. Heinz erzählte manchmal, dass sie ihn regelmäßig fragte, wie es auf der Arbeit gewesen sei. Dass sie, wenn er Frühschicht hatte, mit ihm aufstand, sein Frühstück machte und die Brote, die er mit zur Arbeit nahm. Dass sie sich mittags oder abends an den Herd stellte und sein Leibgericht für ihn kochte. Das hatte Meta nie getan. Und meine Tochter stand voll und ganz auf Metas Seite, hatte nicht das geringste Verständnis für ein junges Mädchen, das von der Mutter behandelt wurde wie ein überflüssiges Möbelstück. Wen hätte Marion denn lieben sollen, wenn nicht ihren Vater? Ich erinnerte Sonja daran, dass sie mit dreizehn doch auch für Béla geschwärmt hatte. Da war er noch der junge Gott am Keyboard gewesen, der nach kurzem Ansingen jeden Hit nachspielen konnte. Da war es noch unwichtig, dass er nach Streitereien für ein paar Tage verschwand. Vielleicht nicht unwichtig, aber keineswegs seine Schuld.
»Habt ihr euch gezankt, Mutti?«
Und wenn wir uns gezankt hatten, dann lag es garantiert an mir. Aber jetzt war das ganz etwas anderes.
»Das kannst du nun wirklich nicht vergleichen, Mama «, bekam ich zur Antwort.
»Was ich an Béla bewundert habe, war lediglich seine Fähigkeit als Musiker. Die hat er, das kann ihm niemand absprechen. Aber seine Qualitäten als Mensch, also, vielen Dank.«
»Mir reichen seine Qualitäten als Mensch «, sagte ich.
»Du musst es ja wissen «, sagte Sonja ein bisschen von oben herab und fügte noch eine spitze Bemerkung hinzu:
»Mal sehen, wie lange es diesmal funktioniert. Fühl dich nur nicht zu sicher. Ein Trauschein ist keine Garantie.«
Wie Recht sie hatte.
6. Kapitel
Es kam schleichend. Béla machte ein paar zarte Andeutungen. So zart, dass kein Mensch begreifen konnte, wie bitterernst es ihm war. Vielleicht lag es an diesem Goldköpfchen, das Andreas und Gisela uns mit schöner Regelmäßigkeit einmal im Monat vorführten. Ein wahres Prachtexemplar von einem Baby, lieb und süß, furchtbar intelligent und überaus großzügig im Verteilen von Zärtlichkeiten.
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