Belladonna
anderen Hintergedanken, was er lieber vermeiden wollte.
Ja, wahrscheinlich war es der Arm einer Schaufensterpuppe, den jemand als dummen Jungenstreich hier hatte liegen lassen.
Der Klang hatte nichts Künstliches, flüsterte etwas. Jemand könnte Hilfe brauchen.
Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen, unsicher, was er tun sollte. Dann sah er nach unten, als eine seiner Schuhspitzen gegen etwas stieß und es zum Klappern brachte.
Eine Schachtel Streichhölzer. Und ein Kerzenstummel, der neben einer Hausecke lag. Er würde nicht viel Licht spenden, aber es wäre genug, um zu sehen, ob es einen Grund gab, nach den Wachmännern zu rufen.
Er ging in die Hocke, schnaufte kurz auf, als sein Bauch zusammengequetscht wurde, war aber nicht gewillt, sich die Hose schmutzig zu machen, indem er sich auf das Kopfsteinpflaster kniete. Er verbrauchte drei Streichhölzer - und es waren ohnehin nur fünf in der Schachtel -, bevor er es endlich schaffte, die Kerze anzuzünden. Mit seinem Gehstock unter dem Arm und einer schützenden Hand vor der Flamme ging er in die Gasse hinein.
Ein gemeiner Streich! Es war ein lausiger, gemeiner Streich, so etwas liegen zu lassen, damit ein unschuldiger Mensch es fand. Ja, er hätte sich beinah selbst beschmutzt vor Angst beim Anblick eines solchen …
»Biiitte.«
Er stand da, starrte dumpf vor sich hin, während sein Verstand die schreckliche Wahrheit akzeptierte: Kein Streich. Keine Schaufensterpuppe. Kein Rotwein, keine rote Farbe, die den Gassenboden besudelte. Das abgetrennte Bein, der Knochen, der aus dem Fleisch hervorragte und zu zersplittert war, um das Ergebnis einer Axt oder Säge zu sein. Und der Körper. Aufgeschnitten. Aufgerissen. Wunden, die so schrecklich waren, dass kein Chirurg sie mehr zusammenflicken könnte. Es war ein Wunder, dass die Frau noch lebte.
»Ganz ruhig, Mädchen«, sagte er und ließ sich mit einem Knie in das Blut und den Dreck nieder. Unbemerkt rannen die Tränen über sein Gesicht. »Alles wird …« Wird was? Nicht wieder gut. Nie wieder gut. Das hier war noch schlimmer als diese Morde, die es im Hafenviertel gegeben hatte. Doch das hier war keine Prostituierte, sondern nur eine junge Frau.
»Dooooreeen.« Ihre Stimme klang schwer, als sei ihr Mund mit Blut gefüllt. »Fooooggy Doooowns.«
»Doreen aus Foggy Downs«, wiederholte er. »Ja, ich werde es deiner Familie sagen. Ich schicke einen Brief, per Eilboten. Du wirst nicht den Fremden überlassen, Mädchen. Ich werde mich darum kümmern, dass du nach Hause kommst. Ich verspreche es.«
Keine Worte mehr. Kein Atem mehr.
Als er um Hilfe schreiend aus der Gasse stolperte, hörte er ein leises, unmenschliches Lachen.
Kapitel 27
Halt hier an«, sagte Michael zu Torry. Dann drehte er sich auf dem Sitz nach hinten, um Glorianna anzusehen. »Was denkst du?« In ihrem Gesicht stand etwas geschrieben. Freude? Stolz? Er konnte es nicht sagen.
»Es war eine dunkle Landschaft«, sagte sie sanft.
»Ich erinnere mich«, sagte er genauso sanft, ohne auf den belustigten und doch verwirrten Blick zu achten, den Torry ihnen beiden zuwarf.
»Sich selbst überlassen, hätte dieser Ort dunkle Herzen oder dunkle Wesen angezogen - vielleicht sogar eine Dämonenrasse.«
»Was?«, sagte Torry.
»Still«, sagte Michael und legte dem jüngeren Mann eine Hand auf den Arm.
»Sie haben eine Entscheidung getroffen, die Menschen, die sich als Erste hier niedergelassen haben«, fuhr Glorianna fort. »Vielleicht war ursprünglich ein Wächter des Herzens bei ihnen. Die Menschen haben vielleicht Geschichten über ihre Vorfahren erzählt, die einen Hinweis enthalten könnten. Diese ersten Siedler beschlossen, das Dunkel zu besänftigen und das Licht zu nähren. Sie brachten Liebe und Gelächter und Wut und Sorge und das ganze verworrene Durcheinander, das ein Menschenleben ausmacht. Und sie bewahrten diesen Ort als Landschaft des Tageslichts, das sich der Dunkelheit zuneigt, sich ihr aber nie hingibt. Jeden Tag, einfach in dem sie hier so leben, wie sie es tun, treffen sie die Entscheidung, am Licht festzuhalten.«
Er blickte hinab auf Foggy Downs, das sich unter ihnen ausbreitete. Gute Menschen mit Herz. Deshalb hatte er ihr diesen Ort zeigen wollen. Er hatte gedacht, gehofft, sie könne ihm helfen. Etwas mit dieser Landschaft tun, was er nicht zu tun vermochte. Doch jetzt verstand er ihre Freude und ihren Stolz, als sie auf das Dorf hinuntersah und über die Menschen nachdachte, die dort lebten. Als sie ihn
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