Belladonna
Besonderes ausgedacht hatte.
Wenn sie ihre Gedanken schweifen ließ, malte sie sich aus, dass sie vor dem Haus von Nan Thomas lag. Irgendwie gefiel ihr das. Hank würde sehen, was Lena angetan worden war. Er würde wissen, was Sibyl angetan worden war. Er würde sehen, was Sibyl nicht hatte sehen können. Das schien ihr so richtig zu sein.
Ein vertrautes Geräusch kam von unten, Schritte auf dem harten Holzfußboden. Sie klangen gedämpft, als er über den Teppich ging. Lena nahm an, dass er durchs Wohnzimmer ging. Sie kannte zwar die Aufteilung des Hauses nicht, aber wenn sie auf die verschiedenen Geräusche achtete und den Übergang von den hohl klingenden Schritten, die er in Schuhen machte, und dem dumpfen Aufschlag registrierte, der zu hören war, wenn er seine Schuhe ausgezogen hatte, um sie zu besuchen, dann konnte sie im Allgemeinen sehr wohl sagen, wo er sich befand.
Nur waren diesmal anscheinend noch die Schritte einer zweiten Person zu hören.
«Lena?» Sie konnte seine Stimme kaum hören, aber instinktiv wusste sie, dass Jeffrey Tolliver ihren Namen gerufen hatte. Eine Sekunde lang fragte sie sich verwirrt, was er hier zu suchen hatte.
Ihr Mund öffnete sich, aber sie sagte kein Wort. Sie befand sich oben auf dem Boden. Vielleicht würde es ihm nicht einfallen, hier zu suchen. Vielleicht würde er sie hier liegen lassen. Sie könnte hier sterben, und niemand würde je erfahren, was ihr angetan worden war.
«Lena?», rief eine weitere Stimme. Die von Sara Linton.
Ihr Mund stand noch immer offen, aber sprechen konnte sie nicht.
Stundenlang gingen sie unten umher. So kam es ihr zumindest vor. Sie hörte die lauten Geräusche von Möbelstücken, die verschoben oder umgestellt wurden. Sie hörte, wie Wandschränke durchsucht wurden. Die gedämpften Stimmen klangen in ihren Ohren völlig disharmonisch. Sie lächelte und dachte, die beiden hörten sich so an, als schlügen sie Töpfe und Pfannen aneinander. In einer Küche hätte Jeb sie jedenfalls nicht verstecken können.
Diesen Gedanken fand sie komisch. Ein Lachen brach aus ihr heraus, eine unwillkürliche Reaktion, die ihren Oberkörper schüttelte und einen Hustenanfall zur Folge hatte. Bald lachte sie so sehr, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Dann begann sie zu schluchzen, und vor Schmerzen schnürte es ihr die Brust zusammen, als sie wieder alles vor Augen hatte, was ihr in der vergangenen Woche passiert war. Sie sah Sibyl auf dem Tisch im Leichenschauhaus. Sie sah Hank um seine Nichte dauern. Sie sah Nan Thomas, verzweifelt und mit rot geränderten Augen. Sie sah Jeb auf sich, wie er mit ihr Liebe machte.
Ihre Finger krümmten sich um die langen Nägel, die sie an den Fußboden fesselten, und bei dem Wissen um die Misshandlungen, die sie hatte erleiden müssen, bäumte sich ihr Körper auf.
«Lena?», rief Jeffrey. Seine Stimme klang lauter als zuvor. «Lena?»
Sie hörte ihn näher kommen, hörte ein Stakkatoklopfen, gefolgt von einer Pause und neuerlichem Klopfen.
Sara sagte: «Die Wandverkleidung ist vorgetäuscht.»
Wieder wurde geklopft, und dann waren ihre Schritte auf der Bodentreppe zu hören. Die Tür sprang auf, Licht explodierte in die Dunkelheit. Lena schloss die Augen so fest es ging, denn die Lichtstrahlen schmerzten wie Nadeln, die in ihre Augäpfel drangen.
«O mein Gott», stieß Sara hervor. «Hol ein paar Handtücher. Laken. Was du finden kannst.»
Lena öffnete ihre Augen zu schmalen Schlitzen, als sich Sara vor sie kniete. Ihr Körper brachte Kälte mit, und obendrein war sie nass.
«Ist ja alles in Ordnung», flüsterte Sara. Ihre Hand lag auf Lenas Stirn. «Es wird dir wieder gut gehen.»
Lena öffnete die Augen noch weiter, damit sich ihre Pupillen an das Licht gewöhnten. Dann sah sie zur Tür, hielt Ausschau nach Jeb.
«Er ist tot», sagte Sara. «Wehtun kann er dir -» Sie hielt inne, aber Lena wusste, was sie sagen wollte. Den Schluss von Saras Satz hörte sie aber nur im Geist. Wehtun kann er dir nie mehr, hatte sie sagen wollen.
Lena sah zu Sara auf. Deren Augen signalisierten etwas, und Lena wusste, dass Sara sie irgendwie verstand. Jeb war jetzt ein Teil von Lena. Er würde ihr an jedem Tag ihres restlichen Lebens von neuem wehtun.
SONNTAG
DREISSIG
Auf der Rückfahrt vom Krankenhaus in Augusta fühlte sich Jeffrey wie ein Soldat, der aus dem Krieg heimkehrt. Physisch würde sich Lena von ihren Verletzungen erholen, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, ob sie je über den emotionalen
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