Belladonna
dann morgen.»
Auch Jeffrey erhob sich, froh, zu einem Ende zu kommen. «Ich rufe Sie an, sobald wir was haben.»
Sie sah ihn verblüfft an. «Wann ist die Einsatzbesprechung?»
Er merkte, worauf sie hinauswollte. «Ich werde Sie an diesem Fall nicht mitarbeiten lassen, Lena. Das müssen Sie wissen.»
«Sie verstehen nicht», sagte sie. «Wenn Sie mich nicht daran mitarbeiten lassen, dann hat Ihre Freundin demnächst noch eine Leiche auf dem Tisch.»
SECHS
Lena trommelte mit der Faust an die Eingangstür des Hauses ihrer Schwester. Sie wollte schon zurück zu ihrem Wagen gehen und ihre Zweitschlüssel holen, als Nan Thomas die Tür öffnete.
Nan war kleiner als Lena, wog aber ungefähr fünf Kilo mehr. Mit ihren kurzen graubraunen Haaren und dicken Brillengläsern sah sie ganz genau so aus, wie man sich die typische Bibliothekarin vorstellte.
Nans Augen waren verweint und geschwollen. Frische Tränen liefen ihr immer noch über die Wangen. Sie hielt ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch in der Hand.
Lena sagte: «Ich nehme an, Sie haben es schon gehört.»
Nan machte eine Kehrtwendung, ging ins Haus zurück und ließ die Tür für Lena offen. Die beiden Frauen waren noch nie gut miteinander ausgekommen. Wäre Nan Thomas nicht Sibyls Geliebte gewesen, hätte Lena wohl kaum je ein Wort mit ihr gewechselt.
Das Haus war ein Bungalow aus den zwanziger Jahren. Die ursprüngliche Architektur war größtenteils erhalten, von den Holzfußböden bis zu den schlichten Türfüllungen. Die Vordertür führte in einen großen Wohnraum mit einem Kamin auf der einen Seite und dem Esszimmer auf der anderen, von wo die Küche abging. Zwei kleine Schlafzimmer und ein Bad vervollständigten den einfachen Grundriss.
Lena ging zielstrebig den Flur entlang. Sie öffnete die erste Tür zu ihrer Rechten und betrat das Schlafzimmer, das Sibyl sich als Arbeitsraum eingerichtet hatte. Alles war penibel aufgeräumt, in erster Linie wohl aus reiner Notwendigkeit. Da Sibyl blind war, mussten sich alle Dinge stets an ihrem Platz befinden, damit sie sie auch finden konnte. Bücher in Braille waren auf Regalen gestapelt. Zeitschriften, ebenfalls in Blindenschrift, lagen ausgebreitet auf dem Couchtisch vor einem alten Futon. Auf einem Schreibtisch auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Computer. Lena schaltete ihn ein, als Nan das Zimmer betrat.
«Was denken Sie sich eigentlich dabei?»
«Ich muss ihre persönlichen Dinge überprüfen.»
«Und wieso?», fragte Nan und trat an den Schreibtisch. Sie legte die Hand auf die Tastatur, als könnte sie Lena dadurch Einhalt gebieten.
«Ich muss prüfen, ob etwas Eigentümliches vorgefallen ist, ob jemand sie verfolgt hat.»
«Und wieso gerade hier?», fragte Nan. Sie nahm die Tastatur an sich. «Den Computer hat sie nur für ihre Arbeit benutzt. Sie könnten doch nicht einmal mit der Software zur Spracherkennung umgehen.»
Lena griff sich die Tastatur. «Das krieg ich schon raus.»
«Nein, kriegen Sie nicht», widersprach Nan. «Das hier ist auch mein Haus.»
Lena stemmte die Hände in die Hüften und ging mitten ins Zimmer. Sie entdeckte einen Stapel Papier neben einer alten Schreibmaschine für Blindenschrift. Sie nahm die Seiten zur Hand und wandte sich an Nan. «Was ist das hier?»
Nan kam herbeigerannt und entriss ihr die Seiten. «Das ist ihr Tagebuch.»
«Können Sie das lesen?»
«Das ist ihr persönliches Tagebuch», wiederholte Nan entsetzt. «Es enthält ihre ganz privaten Gedanken.»
Lena biss sich auf die Unterlippe und überlegte sich eine bessere Taktik. Dass sie Nan Thomas nie hatte leiden können, war in diesem Haus kein Geheimnis. «Sie können Braille lesen, nicht wahr?»
«Etwas.»
«Sie müssen mir sagen, was hier steht, Nan. Jemand hat sie umgebracht.» Sie tippte auf die Seiten. «Vielleicht war jemand hinter ihr her. Vielleicht hatte sie vor etwas Angst und wollte es uns nicht sagen.»
Nan wandte sich ab, den Kopf zu den Seiten gebeugt. Sie fuhr mit dem Finger über die oberste Reihe der Punkte, aber Lena merkte, dass sie nicht wirklich las. Lena hatte den Eindruck, dass sie die Seiten nur berührte, weil Sibyl es auch getan hatte, und dadurch wohl ho ffte, etwas von Sibyl in sich aufzunehmen und nicht nur Wörter.
Nan sagte: «Montags ist sie immer essen gegangen, um mal etwas zu tun, bei dem sie ganz auf sich allein gestellt war.»
«Ich weiß.»
«Wir wollten uns heute Abend eigentlich Burritos machen.» Nan legte den Stapel Papier vor den
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