Belladonna
Schreibtisch. «Tun Sie, was Sie tun müssen», sagte sie. «Ich bin im Wohnzimmer.»
Lena wartete, bis sie gegangen war, und machte sich dann wieder an ihre Arbeit. Nan hatte mit dem Computer Recht gehabt. Lena wusste nicht, wie die Software funktionierte. Sibyl hatte das Gerät auch nur für die Arbeit am College benutzt. Sibyl hatte in den Computer diktiert, was sie brauchte, und ihre Assistentin hatte dafür gesorgt, dass Kopien ausgedruckt wurden.
Das zweite Schlafzimmer war ein wenig größer als das erste. Lena stand in der Türöffnung und ließ das säuberlich gemachte Bett auf sich wirken. Gemütlich eingepackt zwischen den Kissen lag Pu, der Teddybär. Pu war alt und stellenweise abgescheuert. In ihren Kindertagen war Sibyl nur höchst selten ohne Pu aufgetreten, und den Teddybären wegzuwerfen war ihnen wie eine Schandtat vorgekommen. Lena lehnte sich gegen den Türrahmen und sah vor ihrem geistigen Auge ein Bild von Sibyl als Kind. Sie stand da mit ihrem Teddybär Pu. Lena schloss die Augen und überließ sich der Erinnerung. Viel hatte es in ihrer Kindheit nicht gegeben, an das Lena sich gern erinnerte, aber ein besonderer Tag ragte heraus. Ein paar Monate nach dem Unfall, durch den Lena erblindet war, gab Lena ihrer Schwester, die auf der Schaukel saß, immer wieder Schwung. Sibyl hielt Pu ganz fest an die Brust gedrückt, hatte den Kopf nach hinten geworfen, weil sie den Luftzug spürte, und lächelte, weil sie dies schlichte Vergnügen sehr genoss. Ein so starkes Vertrauen herrschte zwischen ihnen, dass Sibyl ohne jede Furcht auf die Schaukel stieg und sich sicher war, dass Lena sie weder zu hoch noch zu schnell schaukelte. Lena hatte sich verantwortlich gefühlt und war stolz darauf. Sie gab Sibyl Schwung, bis ihr die Arme wehtaten.
Lena rieb sich die Augen und schloss die Schlafzimmertür. Sie ging ins Badezimmer und öffnete den Arzneischrank. Bis auf Sibyls gewohnte Vitamine und Kräuter war er leer. Lena öffnete den Wandschrank und wühlte sich durch Toilettenpapier und Tampons, Haargel und Handtücher. Wonach sie suchte, wusste Lena nicht. Sibyl würde niemals etwas verstecken. Denn sie wäre die Letzte gewesen, die es wieder gefunden hätte.
«Sibby», hauchte Lena und wandte sich wieder zum Spiegel am Arzneischrank. Sie sah Sibyl, sah nicht sich. Lena flüsterte ihrem Spiegelbild zu: «Sag mir etwas. Bitte.»
Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu orientieren, wie Sibyl es getan hätte. Das Badezimmer war klein, Lena konnte beide Wände mit den Händen berühren, wenn sie in der Mitte stand. Sie öffnete die Augen und seufzte enttäuscht. Nichts.
Nan Thomas saß im Wohnzimmer auf der Couch. Sie hatte Sibyls Tagebuch auf dem Schoß und sah nicht auf, als Lena hereinkam. «Ich habe die Eintragungen der letzten Tage gelesen», sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. «Nichts Ungewöhnliches. Sie machte sich nur Sorgen um eine Studentin im ersten Semester, die durchzufallen drohte.»
Lena stützte sich mit der Hand an der Wand ab. «Waren im letzten Monat irgendwelche Handwerker da?»
«Nein.»
«Jemand, der Post abgegeben hat? Kein Bote von UPS oder FedEx?»
«Niemand Neues. Wir sind hier in Grant County, Lee.»
Lena sträubten sich die Haare, als sie den vertrauten Namen hörte. Sie gab sich alle Mühe, ihren Zorn zu unterdrücken. «Sie hat nicht etwa gesagt, dass sie das Gefühl hatte, verfolgt zu werden oder dergleichen?»
«Ganz und gar nicht. Sie verhielt sich absolut normal.» Nan presste die Tagebuchseiten an die Brust. «Mit ihren Studenten war alles in Ordnung. Mit uns war alles in Ordnung.» Ein leichtes Lächeln trat auf ihre Lippen. «Wir hatten vor, an diesem Wochenende einen Tagesausflug nach Eufalla zu machen.»
Lena zog ihre Autoschlüssel aus der Tasche. «In Ordnung», sagte sie knapp. «Ich denke, wenn irgendwas auftaucht, sollten Sie mich anrufen.»
«Lee -»
Lena hob eine Hand. «Bitte nicht.»
Nan reagierte auf die Ermahnung mit einem Stirnrunzeln. «Ich werde Sie anrufen, wenn mir etwas einfällt.»
Um Mitternacht leerte Lena schon ihre dritte Flasche Rolling Rock. Sie fuhr außerhalb von Madison über die Bezirksgrenze von Grant County. Sie erwog kurz, die leere Flasche aus dem Wagenfenster zu werfen, aber hielt sich in letzter Minute zurück. Sie lachte über ihr verqueres Moralempfinden: Sie fuhr zwar unter Alkoholeinfluss, aber die Landschaft zu verunreinigen kam nicht infrage. Irgendwo musste man die Grenze ziehen.
Als Angela Norton, Lenas
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