Belladonna
an so etwas dachte, wusste Sara eigentlich auch nicht. In letzter Zeit fand sie kaum Gelegenheit, sich einmal in Ruhe hinzusetzen, den Geschmack von Alkohol mochte sie ohnehin nicht, und wenn der Tag vorüber war, hatte sie so viele Krankenblätter, pädiatrische Fachzeitschriften und forensische Handbücher gelesen, dass ihre Augen streikten.
Tessa unterbrach ihre Gedanken. «Viel Schlaf hast du wohl letzte Nacht nicht bekommen.»
Kopfschüttelnd lehnte sie sich an die Schulter ihrer Schwester.
«Wie ging es denn gestern mit Jeffrey?»
«Wenn ich doch nur eine Pille nehmen könnte, um ihn ganz und gar zu vergessen.»
Tessa hob den Arm und legte ihn Sara um die Schulter. «Konntest du deswegen nicht schlafen?»
Sara seufzte und schloss die Augen. «Ich weiß nicht. Ich musste immer an Sibyl denken. Und an Jeffrey.»
«Zwei Jahre sind eine zu lange Zeit, um jemandem nachzutrauern», sagte Tessa. «Wenn du wirklich über ihn hinwegkommen willst, musst du unbedingt mit Männern ausgehen.» Sie wehrte Saras Protest ab. «Ich mein richtig ausgehen und den Typen nicht gleich abservieren, wenn er etwas näher an dich heranrückt.»
Sara setzte sich auf und zog die Knie an den Oberkörper. Sie wusste, was ihre Schwester sagen wollte. «Ich bin anders als du. Ich kann nicht so leicht mit jemandem ins Bett gehen.» Tessa sah darin keinen Vorwurf, und das hatte Sara auch keinesfalls erwartet. Dass Tessa Linton sich eines aktiven Geschlechtslebens erfreute, war in der Stadt so ziemlich jedermann außer ihrem Vater bekannt.
«Ich war gerade erst sechzehn, als Steve und ich zusammenkamen», holte Sara aus. Sie bezog sich auf ihren ersten ernst zu nehmenden Freund. «Und dann, na ja, du weißt ja, was in Atlanta passiert ist.» Tessa nickte. «Jeffrey hat dafür gesorgt, dass ich Spaß am Sex fand. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich als ganzer Mensch.» Sie ballte die Fäuste, als könne sie so an dem Gefühl festhalten. «Du kannst dir nicht vorstellen, was es für mich bedeutet hat, plötzlich aufzuwachen nach all den Jahren, in denen sich alles um Schule und Ausbildung drehte, in denen ich mit niemandem ausging und eigentlich kein Privatleben hatte.»
Tessa blieb stumm und ließ Sara reden.
«Ich erinnere mich an unsere erste Verabredung», fuhr sie fort. «Er fuhr mich im Regen nach Hause, auf einmal hielt er an. Ich dachte schon, er macht einen Scherz, weil wir ein paar Minuten zuvor noch darüber gesprochen hatten, wie gern wir im Regen spazieren gingen. Aber er ließ das Scheinwerferlicht an und stieg aus dem Wagen.» Sara schloss die Augen und sah Jeffrey vor sich, wie er im Regen stand, den Kragen seines Jacketts hochgeschlagen. «Eine Katze lag auf der Straße. Sie war angefahren worden und allem Anschein nach tot.»
Tessa wartete schweigend. Dann sagte sie: «Und?»
«Er hob sie auf und brachte sie von der Fahrbahn, damit sie nicht noch einmal überfahren wurde.»
Tessa konnte ihr Entsetzen nicht verhehlen. «Er hat sie aufgehoben?»
«Yeah.» Bei der Erinnerung an die Szene lächelte Sara verliebt. «Er wollte eben nicht, dass noch jemand drüberfuhr.» «Er hat eine tote Katze angefasst?»
Sara musste über ihre Reaktion lachen. «Hab ich dir das denn noch nie erzählt?»
«Daran würde ich mich bestimmt erinnern.»
Sara lehnte sich auf der Schaukel zurück und benutzte ihren Fuß, um sie still zu halten. «Die Sache war, beim Essen hat er mir dann erzählt, wie sehr er Katzen hasste. Da hat er also im Dunkeln mitten auf der Straße angehalten, auch noch im Regen, um eine tote Katze beiseite zu schaffen, damit niemand sie überfuhr.»
Tessa konnte ihren Ekel nicht verbergen. «Und dann ist er mit den Tote-Katze-Händen wieder ins Auto gestiegen?»
«Ich bin gefahren, weil er nichts anfassen wollte.»
Tessa rümpfte die Nase. «Ist das jetzt der Moment, wo's romantisch wird? Ich hab nämlich schon ein komisches Gefühl im Magen.»
Sara warf ihr einen Seitenblick zu. «Ich hab ihn zum Haus zurückgefahren, und natürlich musste er mit hereinkommen, um sich die Hände zu waschen.» Sara lachte. «Sein Haar war ganz nass vom Regen, und er hielt die Hände in die Höhe wie ein Chirurg, der sich den Kittel nicht schmutzig machen möchte.» Zur Illustration hielt Sara die Hände in die Luft, die Handflächen nach hinten.
«Und?»
«Und ich hab ihn mit in die Küche genommen, damit er sich die Hände waschen konnte. Da gab es nämlich antibakterielle Seife, und weil er nicht auf den
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