Benedict-Clan "Der Mitternachtsmann"
Kaffeebechers strich. Mit sorgfältig kontrollierter Stimme sagte er: „Hast du dir eigentlich irgendwann mal die Akte angeschaut? Ich weiß, dass es lange her ist und dass es keinen Grund gibt, sich damit zu befassen, aber ich habe mich immer gefragt, ob wirklich alles so passiert ist, wie man es sich damals erzählt hat. Hat April wirklich mit anschauen müssen, wie ihr Dad ihre Mutter erschossen hat?“
„Und dann die Waffe auf sich selbst gerichtet hat. Jedenfalls ist das die Quintessenz dessen, was ich gelesen habe, als ich irgendwann mal einen flüchtigen Blick in die Akten geworfen habe. Aber du kannst dir den Bericht gern genauer anschauen, wenn du willst.“
Luke bedankte sich mit einem Nicken für das Angebot. Es war die Art ruhiger Übereinstimmung, wie sie oft zwischen Verwandten und Freunden in Kleinstädten herrscht, aber sie bedeutete viel. „Sie war damals wie alt? Fünf oder sechs?“
„Fünf. Sie hat nicht vor Gericht ausgesagt, sie hat fast ein halbes Jahr lang überhaupt kein Wort gesprochen – ein psychisches Trauma, dem Arztbericht zufolge. Steht alles in der Akte.“
Luke wurde von Mitleid, gepaart mit Zorn, überschwemmt, dass damals niemand für sie da gewesen war und dass es nichts gab, was er jetzt noch dagegen hätte tun können. „Ich glaube, es verfolgt sie immer noch“, sagte er mit gepresster Stimme.
„Das würde mich nicht überraschen. Der Arzt hat damals diagnostiziert, dass sie sich in eine Traumwelt zurückgezogen hat, wo alles sicher und rosig ist. Kann sein, dass sie immer noch dort lebt.“
Luke schnaubte. „Ich wollte damit nicht sagen, dass sie nicht normal ist oder so. Oberflächlich betrachtet geht es ihr gut … es kommt mir nur so vor, als ob diese Geschichte immer noch ihr Denken und Handeln beeinflusst. Sie sieht die Dinge irgendwie anders.“
„Du denkst jetzt an diese Sache mit dem Unfall, bei dem dieses Mädchen umkam“, vermutete Roan.
„Ja.“
„Das war nicht dasselbe.“
Luke schaute auf. „Wirklich nicht? Mary Ellen Randall starb in einer schönen Sommernacht vor dreizehn Jahren, und ich war schuld.“
„Du hast sie nicht getötet.“
„Sie war in meinem Auto, wo sie nicht hätte sein sollen. Es kam von der Straße ab. Sie starb schreiend in den Flammen, während ich dabeistand und nichts tat.“
Roan stellte seine Tasse ab und beugte sich in seinem Stuhl vor, wobei seine Hände lose verschränkt vor ihm auf seinem Schreibtisch lagen. „Es gab nichts, was du hättest tun können. Hör auf damit.“
„Ja.“ Widerspruch war zwecklos. Das wusste Luke nur allzu gut. Manches konnte man eben nicht verstehen, wenn man nicht dabei gewesen war. Und auch nicht nachfühlen. Nach einem Moment sagte er: „Um wieder auf das zurückzukommen, was du vorhin gesagt hast. Ich bin mir sicher, dass es Benedicts gibt, die nicht wollen, dass ihre Familiengeschichte allzu sehr aufgerührt wird.“
„Zum Beispiel?“ Auf dem Gesicht des anderen Mannes spiegelte sich Erleichterung darüber, dass sie zu einem etwas weniger heiklen Thema übergingen.
„Granny May, zum einen. Auch wenn ich es zum Brüllen finde, dass sich ihr Großvater das Geld für seinen ersten Wagen dadurch verdient hat, dass er an die Hälfte aller Politiker der Stadt schwarzgebrannten Schnaps verhökert hat, läuft sie immer noch knallrot an, wenn die Sprache darauf kommt. Und die Indianerin in unserem Stammbaum würde sie auch ganz gern vergessen, ganz zu schweigen von der Großtante, die ihren Mann und ihre drei kleinen Kinder sitzen ließ, um – wie sagt Granny May immer? – als Flittchen in den Goldgräbercamps von Colorado zu leben.“
Roan grinste und sagte: „Du solltest eigentlich einen durch die Gegend ziehenden Baptistenprediger als Vorfahren haben, einen aufrechten, nach Pech und Schwefel stinkenden eisernen Retter verlorener Seelen, der rein zufälligerweise drei Frauen in ebenso vielen Bundesstaaten hat. Deine Großmutter würde nicht wissen, ob sie vor Scham in den Boden versinken oder mächtig stolz sein sollte.“
Einen Prediger in der Familie zu haben war im gottesfürchtigen Süden gewöhnlich eine tolle Sache. Aber ein von Skandalen umwitterter war in dem normalen Schema ein bisschen schwierig unterzubringen. Luke schüttelte den Kopf, als er sagte: „Das war doch dein Großvater, stimmts? Ich habs vergessen.“
„Richtig – und er war ein Heiliger im Vergleich zu ein paar anderen Geächteten. Aber ich frage mich, ob nicht vielleicht irgendwer von der
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