Benjamin Rootkin - Zeiten voller Zauber, eine Weihnachtsgeschichte
wagen, diesen Laden noch zu betreten?“, fauchte Mrs.Goodman.
Ben versuchte zu sprechen, aber irgendwie brachte er kein Wort hinaus. Inzwischen tobte Mrs.Goodman weiter.
„Den guten Father Duncan zu belügen! Das Waisenhaus zu bestehlen! Was bist du bloß für ein Mensch?“
Die Beschuldigungen flogen ihm um die Ohren. Als das Wort Bestehlen fiel, ruckte sein Kopf hoch.
„Ich habe jemanden bestohlen?“, fragte er ungläubig.
„Aber sicher hast du das! Oder willst du leugnen, dass du jeden Tag in der letzten Woche vorbeigekommen bist und Lebensmittel mitgenommen hast?“
„Nein, aber ...“
„Nichts aber! Und das ganze Zeug hast du Father Duncan auf die Rechnung setzen lassen, und das nach allem, was er für dich getan hat.“
Auf die Rechnung setzen lassen?, dachte Ben. Wovon redete Mrs.Goodman eigentlich? Da musste ein Missverständnis vorliegen.
„Ich habe ... ich habe ...“, stotterte er hilflos.
„Was hast du?“, Mrs.Goodmans Blick bohrte sich in seine Augen.
„Ich habe alles bezahlt!“, brach es aus Ben heraus.
„Ach was?“, meinte Mrs.Goodman ironisch. „Vielleicht von dem Geld, das du in meinem Laden verdient hast?“
O je, schoss es Ben durch den Kopf. Sie hat mit Father Duncan gesprochen. Noch einmal versuchte er, sich zu rechtfertigen, aber Mrs.Goodman ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen, sondern packte ihn am Halsaufschlag seiner Jacke und zog ihn aus dem Laden.
Draußen ernteten die beiden seltsame Blicke von Passanten, aber weder Ben, der vollkommen durcheinander war, noch die aufgebrachte Ladeninhaberin, bemerkten etwas davon. Ihre Hand ließ ihn los, und Ben stapfte davon. Das Letzte, was er hörte, war Mrs.Goodmans Stimme, die ihm nachrief, er solle sich hier bloß nie wieder blicken lassen.
Alles wurde noch schlimmer, als Ben ins Waisenhaus zurückkehrte. Father Duncan wartete schon am Eingang auf ihn und befahl den Jungen in sein Büro.
Der Priester setzte sich in den großen Ledersessel hinter seinen unaufgeräumten Schreibtisch. Über seinem Kopf hing ein Kruzifix, von dem ein hölzerner Jesus auf die Welt herabblickte. Ben stand vor dem Geistlichen, die Hände hinter dem Rücken und den Kopf gesenkt. Als er aufsah, bemerkte er, dass Father Duncan Tränen in den Augen hatte. Sein Gesicht hatte den Ausdruck angenommen, den alte Jagdhunde oft zeigen. Eine Mischung aus Resignation und Verzweiflung.
„Wie konntest du mir das antun?“, fragte der Geistliche leise.
Ben konnte nicht antworten. Ein dicker Kloß lag in seinem Hals.
„Wie konntest du mir das antun? Mich so zu belügen? Uns alle zu bestehlen?“
„Ich habe nicht gestohlen.“
„Ben, es nützt dir nichts mehr. Ich habe heute Nachmittag mit dem Bischof gesprochen, und wir sind übereingekommen, dich in die Erziehungsanstalt nach Groves Garden zu schicken. Also lass bitte die Lügen.“
„Aber ich lüge nicht! Ich habe alles bezahlt!“
„Von was für Geld hast du es bezahlt?“
„Ich habe gearbeitet.“
„Bei Mrs.Goodman? Ben, hältst du mich für dumm? Ich habe mit Mrs.Goodman gesprochen, sie sagt, sie hat dich schon seit einer Woche nicht mehr gesehen.“
„Nicht für Mrs.Goodman. Für Mr.Weern, den Kohlenhändler.“
„Ben, Gott sieht dich in diesem Augenblick. Du kannst mich belügen, aber niemals unseren Herrn.“ Sein Zeigefinger richtete sich auf das an der Wand angebrachte Kreuz. „Sag mir nur noch eines, Ben. Was hast du mit den Lebensmitteln gemacht? Hast du sie verkauft?“
Ben hob den Kopf. Seine Augen blickten fest auf den Priester.
„Ich habe die Sachen einer kranken Frau gebracht.“
Father Duncan schüttelte traurig den Kopf.
„Selbst jetzt kannst du es nicht lassen! Aber nun gut. Morgen wird dich Mr.Stendal nach Groves Garden bringen.“
„Morgen schon?“, hauchte Ben entsetzt.
„Ja, morgen!“
„Aber ... aber morgen ist Heiligabend!“
„Das weiß ich! Du bleibst keinen Tag länger in diesem Haus, und nun geh, ich möchte dich nicht mehr sehen!“
Leise schloss Ben die Tür. Seine Welt war eben zusammengebrochen.
Kapitel 11
Etwa zur gleichen Zeit, als Ben das Büro des Priesters verließ, wollte Mrs. Goodman ihren Laden abschließen. Sie hatte den Schlüssel schon ins Schloss gesteckt, als jemand an die Ladentür klopfte.
Mrs.Goodman seufzte ergeben und öffnete wieder. Vor ihr stand eine junge, gutaussehende, allerdings sehr magere Frau, die sie sonderbar musterte.
„Ja?“, fragte Mrs.Goodman höflich.
„Erinnern Sie sich nicht an
Weitere Kostenlose Bücher