Benjamins Gärten (German Edition)
Manchmal frage ich mich, ob es nicht schöner wäre, durch eine große Stadt zu gehen, unerkannt, unbehelligt, frei. Dinge, die hier vor banaler Wichtigkeit in den Himmel zu wachsen scheinen, bedeuten dort nichts. Mir ins Blut übergegangene Regeln gelten nicht. Ein Ort, an dem ich sein kann, wie ich will. Es nicht interessiert, ob ich Gardinen im Fenster habe. Nicht interessiert, mit wem ich ins Bett gehe. Ich mir keine Gedanken darum mache, ob andere das wissen.
Ich weiß nicht, wie das Leben dort ist. Habe nur eine vage Vorstellung davon. Dass es freier sein muss, aufregender. Dass es mehr Möglichkeiten bietet. Studieren, Erfahrungen sammeln, Dinge kennen lernen, mit denen ich hier nie in Kontakt käme. Dinge, die mich voranbringen, meinen Horizont erweitern.
Ich schaue zu dem Hügel hinauf, zwischen dessen Baumkronen die Spitze des Kirchturms hervorlugt. Ich glaube nicht, dass die Bäume in den Städten so hoch sind. Das Gras, wo es sich halten kann, nur vertrocknet und kurz. Vielleicht vermisst man das Grün nach einer Weile nicht mehr. Vielleicht gibt es dort Dinge, die das ersetzen. Lachende Kinder, die Tauben über einen Platz jagen, ein Kübel mit Bambus neben einem Straßencafé, der sich im Wind wiegt; irgendwo erhaschte Bilder.
Ich biege in einen Weg ein, der den Hang hinauf führt. Die geköpften Linden rechts und links werfen Schattenkleckse darüber, schützen mich vor Blicken. Der Weg führt auf das Friedhofstor zu, ich trete zwischen der hohen Mauer hindurch, die noch immer von einem schmalen Wehrgang bekrönt ist. Der Weg führt auf den Seiteneingang der kleinen Kirche zu. Schräge gedrungene Mauern, nur ein Dachreiter als Türmchen. Ich folge dem Pfad, der um die Kirche herumführt. Das Gras zwischen den Gräbern wächst noch ungehindert.
Es ist mittäglich ruhig, niemand anderes hier. Über schma-le Steintritte steige ich hinauf auf die Mauer, blicke weit ins Land, die Häuser des Dorfes zwischen weißen Blütenwolken, hinter dem alten Rittergut öffnet sich der Blick auf fahlbraune Felder. Ich fühle mich frei hier oben, beschützt. So wie sich die Bauern fühlten, als sie ihr Vieh hier hoch trieben, das Tor schlossen. Die Feinde schon von Weitem heranziehen sehen konnten.
Zwischen die Ritzen der Mauer hat sich Löwenzahn gedrängelt. Ich pflücke ein paar gelbe Blüten, steige wieder herunter. Am Fuß der Mauer blüht Taubnessel, die sich zum Löwenzahn in meiner Hand gesellt. Ich gehe an Gräbern vorbei, auf denen kleine Armeen von Stiefmütterchen prangen. Komme zu einem Grab, das zwischen dem hohen Gras fast versinkt. Vergissmeinnicht und Gänseblümchen blühen darauf. Ich tausche den noch nicht welken Strauß in der Vase gegen den in meiner Hand aus, knie mich dann ins Gras.
Wir begruben sie an einem warmen Frühlingstag. Ich trug meinen zu eng gewordenen grauen Anzug. Obwohl ich schon viele Wochen gewusst hatte, dass ich wahrscheinlich bald einen schwarzen brauchen würde, hatte ich mich nicht aufraffen können, einen zu kaufen. Ich besaß ziemlich neue schwarze Schuhe, aber sie drückten und kurz bevor wir losgingen, zog ich sie einfach aus. Mein Vater sah mich mit großen, glasigen Augen an. Aber er sagte nichts. Ich saß neben ihm in der ersten Reihe, zerknüllte mit trockenen Augen ein Taschentuch. Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Ich hörte, dass die Kirche nicht sehr voll wurde. Es machte mich traurig, sie so leer zu wissen. Als interessiere ihr Tod nur wenige Menschen.
Dann standen wir neben dem offenen Grab, die Leute starrten auf meine nackten Füße, sagten mir Worte, die an mir vorbeirauschten. Mitleid, das an mir abperlte. Sie wagten es nicht, über meine Füße zu tuscheln, später vielleicht, aber nicht hier. Ein Schutzwall der Trauer umgab mich an diesem Tag, schützte mich noch lange vor hämischem Gerede.
Ich zupfe Löwenzahnsprossen aus der feuchten Erde, versuche sie samt ihren hartnäckigen Wurzeln zu erwischen. Betrachte die zwei Namen auf dem dunklen Stein. Ein neues Jahr war gekommen, das Grab frisch bepflanzt, als daneben ein neues ausgehoben wurde, bröcklige Erde auf die blühenden Pflänzchen fiel, ein Schlachtfeld hinterließ. Ich saß allein in der ersten Reihe. Hinter mir raunte und raschelte es, die Kirche füllte sich. Das ganze Dorf kam, seine Klassenkameraden, seine Nachbarn, alle die ihn schon als kleines Kind gekannt hatten. Alle, die mit seinen Großeltern entfernt verwandt waren. Ich schaute mich nicht um. Diese Präsenz erschreckte mich. Ich
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