Benjamins Gärten (German Edition)
verstand jetzt die Leere auf der letzten Trauerfeier. Sie stammte nicht von hier und der Kreis von Bekannten fehlte auf ihrer Beisetzung. Sie war nicht unbeliebt gewesen. Auch wenn die Leute sofort erfasst hatten, dass sie anders war. Ein Stadtmensch, der aus Liebe hergekommen war, aber weiter ein Stadtmensch blieb. Niemand, der harte Arbeit gewöhnt war und nur für sie lebte. Sie vergaß, die Wäsche bei einem Regenguss hereinzunehmen, weil sie bei weit geöffneten Fenstern begeistert Schubert hörte. Sie ließ eine verirrte Lupine an der Hausmauer stehen, weil sie die hübsch fand. Sie saß im Garten und las Bücher, obwohl es Zeit war, den Sonntagsbraten vorzubereiten.
Ich versuche, den braunen, hartnäckigen Saft des Löwenzahns von meinen Finger zu reiben, doch ohne Erfolg. Ich stehe auf, gehe zum Brunnen, doch auch Wasser hilft nicht. Sie bemühte sich immer, höflich und liebenswürdig zu sein. Wollte nicht als arrogant gelten. Sie ging mit zum Feuerwehrfest, kehrte die Straße ordentlich, gewöhnte sich an, die Fenster zu schließen, wenn sie Musik hörte. Alle hatten Mitgefühl, als sie krank wurde. Aber richtig dazu gehörte sie doch nie. Das schafft niemand, der nicht hier geboren ist.
Ich gehe wieder hinüber zur Mauer, steige hinauf. Ich bin hier geboren. Doch die Leute merken langsam, dass ich Dinge anders tue als sie, anders als man sie immer tat. Der behütende Bonus der Trauer ist langsam aufgezehrt. Der Schutz der Zugehörigkeit umgibt mich noch. Manchmal frage ich mich, wie lange noch. Manchmal habe ich Angst davor, als Ausgestoßener dazustehen. Manchmal frage ich mich, ob es eine gute Idee ist, hier zu leben. Ob ich mir das antun muss. Ich stecke die Hände in die Hosentaschen und lasse mir den Wind um den Kopf wehen, bis er wieder frei ist. Meistens weiß ich, dass es nichts gibt, vor dem ich Angst haben muss.
Abends setze ich mich auf die Schwelle der Hintertür. Der Granit strömt die gespeicherte Wärme des Tages aus. Ich zünde mir eine Zigarette an, inhaliere langsam. Eine Amsel springt über die Wiese, hüpft zwischen Büscheln hoher Gräser hindurch und verschwindet hinter dem alten Küchentisch, der unter dem Birnbaum steht. Die schräg stehende Sonne streift über die Wiese, durchleuchtet die Blütenkronen der Bäume. Ihr intensiver Duft liegt in der Luft, Konzentrat des Frühlings.
Zwei Jahre zuvor saß ich jeden Abend hier, sah die Schönheit um mich. Sie gab mir Trost, ließ Hoffnung zu. Die Welt ein Stück dem Profanen enthoben, für kurze Zeit eine andere. Um mich vom Schmerz abzulenken, konzentrierte ich mich auf diese Schönheit. Fühlte sie mit jeder Faser, so intensiv ich konnte. Wusste nicht, was von mir bleiben würde, ohne sie, ohne meine Fähigkeit, sie zu fühlen. Ein Büschel hoher Gräser wird von einem Sonnenstrahl getroffen, leuchtet auf. Ich schnippe die Asche ins Gras.
Manchmal kann ich nicht fassen, dass es nicht erst gestern war. Manchmal sind hundert Jahre vergangen. Ich drücke die Kippe auf der Schwelle aus. Schüttle die Schwere ab, die über meinen Rücken kriecht.
Vor einem Jahr war ich endgültig allein. Saß wieder hier, die Blüten in der Dämmerung genauso schön. Ich hatte das Abitur in der Tasche. Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte. Ich ließ mich treiben. Habe nichts in die Hand genommen. Die Wochen vergehen schnell. Ich mache etwas ums Haus, ich verzettele mich.
Im Herbst wird es Zeit, etwas anzufangen. Mich zu entscheiden. Für eine Ausbildung, ein Studium, einen Beruf. Für etwas, das ich den Rest meines Lebens tun möchte. Für etwas, das ich mit meinem Leben anfangen will. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Ich habe nicht einmal eine Idee. Weiß nicht, was ich gut kann, was ich wirklich gern mache.
Ich blicke auf, das Licht erreicht nur noch die höchsten Blüten. Es beginnt kühl zu werden, ich gehe ins Haus.
Verstecke
Hallo Benni, muss einiges besorgen,
Bin ein paar Tage weg. M.
Ich starre auf den Zettel an der Tür, bevor seine Bedeutung in mein Gehirn tröpfelt. Ich drehe mich langsam um. Blicke die Auffahrt hinunter, als könnte ich dort den Rauch eines Auspuffs wahrnehmen, den Kühlergrill seines Cadillacs. Doch die Auffahrt ist leer, leuchtet unberührt im Morgenlicht.
Ich setze mich auf die Stufen vor der Haustür, lehne meinen Kopf an das gusseiserne Geländer. Ein paar Tage, wie viele sind das? Zwei? Drei? Eine ganze Woche? Einmal waren ein paar Tage ganze sechzehn. Nach drei Tagen begann ich zu zählen, nach
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